Das „Spotlight“ ist beim Filmfest München der Ort für die dicken Dinger: Weltpremieren großer deutscher Produktionen entdeckt man in dieser Reihe ebenso wie deutsche Premieren internationaler Festivalhits. Gute Sache.
Auf einen gemeinsamen Nenner bringt man die für die Edelreihe „Spotlight“ gewählten Titel kaum. Es sei denn, man lässt gelten, dass dies der Raum ist für Publikumshits, für Filme, die Anspruch und die Lust an Unterhaltung miteinander verbinden, für die Arbeiten namhafter Filmemacher, die mit klingendem Namen automatisch Aufmerksamkeit auf sich lenken. Weltpremieren deutscher Produktionen sind hier ebenso selbstverständlich wie die deutschen Premieren von Titeln, die man als eine Art Best of… der internationalen Festivalsaison begreift: Nicht wenige von ihnen werden das Filmfest München als Rampe für ihren in Kürze folgenden Kinostart nützen.
Aber erst einmal, first things first, die deutschen Highlights in dieser Reihe. Alireza Golafshan hat sich mit „Die Goldfische“ und „JGA – Jasmin. Gina. Anna.“ als visueller Stilist im Komödienbereich empfohlen – und beschließt seine Comedy-Trilogie, wieder für Wiedemann & Berg, nunmehr mit „Alles Fifity-Fifty“, in dem sich Moritz Bleibtreu und Laura Tonke als geschiedenes Ehepaar mit ihrem gemeinsamen Sohn auf Familienurlaub in Italien begeben. Das klingt schon in der Kurzbeschreibung irre komisch. Und ist es auch. Optisch weniger ausgebufft, aber in seiner Gagdichte ebenso effektiv ist der neue Film von Marco Petry, „Spieleabend“, seine erste Arbeit für Netflix nach einem Drehbuch von Claudius Pläging, in dem sich Dennis Mojen den Freunden seiner Liebsten, gespielt von Janina Uhse, im Rahmen eines, naja, Spieleabends vorstellt, der schnell aus dem Ruder läuft. File next to „Ein perfektes Geheimnis“ und „Der Vorname/Der Nachname“.
Engagiertes politisches Kino, das sich mit der deutschen Geschichte des vergangenen Jahrhunderts auseinandersetzt und klar positioniert, bieten die neuen Arbeiten von Joachim A. Lang („Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm“) und RP Kahl („Als Susan Sontag im Publikum saß“): Lang nimmt sich in „Führer und Verführer“ Hitlers rechte Hand Joseph Goebbels und dessen Inszenierung seiner Propaganda vor, ein eindringlicher Film mit einem sehr starken Robert Stadlober in der Hauptrolle. Kahl wiederum bringt Peter Weiss’ legendäres Theaterstück „Die Ermittlung“ auf die Leinwand, in dem die Fakten des Frankfurter Auschwitzprozesses in einer kunstfertigen und sparsamen Sprache ausgebreitert werden. Der Regisseur gewann dafür eine Riege an Schauspielern, die kaum namhafter sein könnte. Marcus O. Rosenmüller kehrt auf die große Leinwand zurück mit einer von Alice Brauner produzierten Künstlerbiographie: Die Hauptrollen in „Münter & Kandinsky“ spielen Vanessa Loibl und Vladimir Burlakov. Der sechste deutsche Titel ist ein Dokumentarfilm: In ihrem Regiedebüt „ Die Schule der Frauen“ zeigt Schauspielerin Marie-Lou Sellem fünf ehemalige Schauspielschülerinnen, die sich drei Jahrzehnte nach ihrem Studium wiedertreffen.
Große Deutschlandpremiere feiert „Die Fotografin“ von Ellen Kuras, die das Leben der legendären Kriegsfotografin Lee Miller ausbreitet. Gespielt wird sie von Kate Winslet, die in diesem Jahr neben Jessica Lange den CineMerit Award erhält. Der Film kommt mit Empfehlungen vom Toronto International Film Festival nach München. Dort feierte auch „The Dead Don’t Hurt“ (hier unsere SPOT-Besprechung) seine Weltpremiere. Die zweite Regiearbeit von Hollywoodstar Viggo Mortensen ist ein Western der ungewöhnlichen Art, in dem Vicky Krieps als unkonventionelle Frau die Männerwelt einer kleinen Gemeinde in Nevada konfrontiert. Einen Zusammenprall der Welten thematisiert auch „Tatami“ (hier unsere SPOT-Besprechung), der seine Premiere in der Reihe „Orizzonti“ in Venedig hatte und der wohl erste Film, der in Koregie einer Iranerin und eines Israeli entstand – Zar Amir und Guy Nattiv. Sie erzählen in einem schwarzweißen Sportthriller von einer iranischen Judoka, die bei der Judo-Weltmeisterschaft von ihrem Regime unter Druck gesetzt wird. Dazu passt dann auch „Paris Paradies“, und wenn auch nur, weil die Regisseurin Marjane Satrapi ebenfalls aus Iran stammt: Ihre Großstadtkomödie, starbesetzt unter anderem mit Monica Bellucci und André Dussollier, ist eine ganz leichte Angelegenheit, auch wenn es um Sterblichkeit und den Tod gehen mag. Aus Venedig, in diesem Fall dem Wettbewerb, kommt übrigens auch die italienische Produktion „Enea“, eine exaltiert und mit maximaler Bilderwirkung inszenierte Gangstergeschichte von Pietro Castellitto. Man will seinen Augen nicht glauben!
Eine große Sache mit richtig großen Namen – nämlich Robert De Niro, Bobby Cannavale und Rose Byrne – ist „Ezra – Eine Familiengeschichte“ von Tony Goldwyn, in dem ein mäßig erfolgreicher Standup-Comedian gefordert ist, seinen autistischen Sohn großzuziehen. Nicolas Boukhrief schenkt dem großen Vincent Lindon eine weitere kämpferische Rolle in „Comme un fils“, wo er als desillusionierter Geschichtslehrer einen neuen Sinn findet, als er sich eines 14-jährigen Roma-Jungen annimmt. Noch eine Lehrergeschichte: Daniele Luchetti, der in den deutschen Kinos gerade zu sehen war mit seinem 2020er Venedig-Eröffnungsfilm „Was uns hält“, stellt seine neueste Arbeit vor, „Confidenza“ mit Elio Germano, der von der Affäre eines Lehrers mit einer Schülerin erzählt. Die kanadische Produktion „The G“ gibt der großartigen Dale Dickey die Chance, endlich einmal in einer Hauptrolle zu zeigen, was für eine fulminante Schauspielerin sie doch ist. Noch kanadischer ist „Born to Be Wild“, ein Dokumentarfilm über die legendäre Rockformation Steppenwolf um den deutschstämmigen John Kay, die mit dem gleichnamigen Song Geschichte schrieb und den Ausdruck „Heavy Metal“ populär machte.
„Le successeur“ ist der neue Film von Xavier Legrand, dem Regisseur des großartigen „Nach dem Urteil“, der auch in dieser Arbeit, die Weltpremiere in San Sebastián gefeiert hatte, den Abgründen der Seele auf die Spur kommen will. Erst hervorragend, mit zunehmender Dauer dann nicht mehr ganz so gelungen. Und schließlich sollte auch „Touch“ nicht unerwähnt bleiben, die neue Arbeit, ungewöhnlich still und eindringlich, von Baltasar Kormákur über einen Mann, der sich zu Beginn der Pandemie auf die Suche nach seiner großen Liebe macht, die er 50 Jahre nicht mehr gesehen hat. Das eindringliche Drama ist auch der Abschlussfilm des Filmfest München.
Thomas Schultze