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REVIEW KINO: „Memory“

Schonungsloses Drama mit Hoffnungsschimmer über eine traumatisierte Frau, die in einem Mann auf einer Party ihren Vergewaltiger von einst erkannt zu haben glaubt.

CREDITS:
Land / Jahr: USA 2023; Laufzeit: 103 Minuten; Regie, Drehbuch: Michel Franco; Besetzung: Jessica Chastain, Peter Sarsgaard, Brooke Timber, Merritt Weaver, Josh Charles, Jessica Harper; Verleih: MFA+; Start: 3. Oktober 2024

REVIEW:
Worauf man sich bei Michel Franco längst verlassen kann: Jeder neue Film von ihm ist interessant, jeder neue Film von ihm ist völlig anders als das, was er davor gemacht hat. „Memory“, der seine Weltpremiere bei der letztjährigen Mostra in Venedig feierte, wo Peter Sarsgaard als bester Schauspieler ausgezeichnet wurde, bildet keine Ausnahme. Nun mag bereits der Vorgänger „Sunshine“ mit Tim Roth im Register deutlich versöhnlicher gewesen sein, bittersüßer, als es Franco beispielsweise in seinem radikalen Schocker „Nuevo Orden“ (Großer Preis von Venedig) gewesen war, aber mit seinem neuen Film geht der Mexikaner doch noch einmal einen deutlichen Schritt weiter. Erstmals hat er in den USA gedreht, ausschließlich mit amerikanischen Schauspielern und in englischer Sprache, und er erzählt eine Liebesgeschichte, die man zunächst einmal nicht kommen sieht. 

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Michel Francos „Memory“ mit Peter Sarsgaard und Jessica Chastain (Credit: Teorema 2023)

Weil die von Jessica Chastain gespielte Sylvia erst einmal so ablehnend auf den von Sarsgaard dargestellten Saul reagiert, mit so unverkennbarem Ekel und nacktem Horror, dass das Letzte, was man sich zwischen diesen beiden erwarten würde, eine zärtliche Annäherung wäre, ein Finden zweier zutiefst verletzter Seelen. Seitdem Sylvia als Schulmädchen von mehreren Jung bedrängt und vergewaltigt wurde, wie sie sich erinnert, hat sie ihr Traum in Alkohol ertränkt und findet nur langsam aus dem tiefen Loch hinaus, in das sie gestürzt war. Als sie sich überreden lässt, auf eine Party zu gehen, und dort ausgerechnet Saul zu sehen, den sie als einen der Jungs von damals zu erkennen glaubt, bricht sie in Panik aus und stürzt Hals über Kopf nach Hause. Nur um zu erkennen, dass Saul ihr folgt, in gebührendem Abstand, aber doch Schritt auf Tritt. Die ganze Nacht harrt er vor ihrem Haus, in strömendem Regen. Am nächsten Morgen sieht Sylvia ihn schlafend durchnässt und durchfroren vor ihrem Haus liegen. 

Jetzt erfährt der Zuschauer, dass der Witwer Saul an Demenz erkrankt ist, alleine nicht mehr den Weg nach Hause findet. Sollte er damals tatsächlich bei der Vergewaltigung dabei gewesen sein, kann er sich nicht daran erinnern. Er kann sich ja kaum an seinen Namen erinnern. Aus dieser Konstellation erwächst etwas Unerwartetes, Hoffnungsvolles: Für Sylvia erweist sich Saul als erster Mann seit langer Zeit, von dem keine Bedrohung ausgeht. Er ist rücksichtsvoll, leise, vorsichtig, zart: Sie erklärt sich bereit, sich um den verwirrten Mann zu kümmern, lässt sogar ihre 13-jährige Tochter allein in seine Nähe. Es ist ein strenger Film, die Kamera bewegt sich wenig. Man denkt vielleicht an Bresson. Aber wie Franco hier in diesem vermeintlich aufgesetzten Szenario erst Menschlichkeit freilegt und dann die wahre Quelle des Traumas von Sylvia, deren Schwester ihr vorrechnet, dass die Vergewaltigung, die sie zu einem emotionalen Krüppel hat werden lassen, nie passiert haben kann, sondern nur ein Panzer für eine noch schlimmere Erfahrung ist, das ist sehr bewegend und funktioniert für den Zuschauer nicht zuletzt der überragenden Schauspieler sehr gut, denen Michel Franco alle Amerikanismen und Manierismen ausgetrieben hat: Ihre Darstellung hat eine Rohheit, eine emotionale Nacktheit, die einem an die Nieren geht. Man ist dankbar, dass der Regisseur sie nicht fallen lässt, wie er es in einer früheren Arbeit womöglich noch getan hätte. Gut zu wissen: Auch Michel Franco kennt Gnade.

Thomas Schultze