Mit trockenem Humor erzählte Geistergeschichte über eine französische Schriftstellerin, die bei einer Lesereise durch Japan neuen Lebensmut schöpft.
FAST FACTS:
• Französische Antwort auf „Lost in Translation“
• Gewohnt wunderbar in der Hauptrolle: der französische Superstar Isabelle Huppert
• Überraschender Gastauftritt von August Diehl
• Weltpremiere in Venedig 2023 im Rahmen der Giorante degli Autori
• Festivalpremieren auf insgesamt elf internationalen Filmfestivals
• Deutschlandpremiere beim 41. Filmfest München
CREDITS:
O-Titel: Sidonie au Japon; Land / Jahr: Frankreich 2023; Laufzeit: 95 Minuten; Regie: Élise Girard; Drehbuch: Maud Ameline, Élise Girard, Sophie Fillières; Besetzung: Isabelle Huppert, Tsuyoshi Ihara, August Diehl; Verleih: Majestic; Start: 11. Juli 2024
REVIEW:
Was es nicht gibt: auch nur einen Close-Up vom Gesicht von Isabelle Huppert, auch nur eine einzige Nahaufnahme irgendeines anderen Schauspielers in diesem betont unterbevölkerten Film. „Madame Sidonie in Japan“ ist ein Film der Halbtotalen und Totalen. Er wahrt Abstand. Er sieht zu. Er verfolgt mit. Auch wenn gerade wenig oder gar nichts passiert. Aber es ist nicht die lakonische Distanz eines Jarmusch oder Kaurismäki. Die Rigidität ist dem Seelenzustand der Hauptfigur geschuldet, der die Trauerarbeit von Regisseurin Élise Girard zwar nicht abgenommen, aber doch mit ihrer zunehmend starren Mise en Scène stets Rechnung getragen wird. Eiszeit in Bildern. Weniger hat auch Yasujiro Ozu die Kamera nicht bewegt. Es spiegelt sich das Bemühen der Regisseurin, die bekannt ist für ihre Filme „Belleville Tokyo“ und „Schräge Vögel“, einen so japanischen Blick auf eine Französin in Japan zu werfen wie möglich: „In Japan ist es nicht üblich, dass Frauen etwas so direkt aussprechen“, sagt der Verleger Kenzo Mizuguchi – nicht verwandt oder verschwägert mit dem großen japanischen Filmemacher, um einem running gag des Films vorzugreifen – zu der Schriftstellerin Sidonie Percival, die nach Osaka gekommen ist, um auf einer Lesereise aus ihrem ersten Roman vorzulesen, der 40 Jahre zuvor erschienen war und jetzt erstmals auf Japanisch aufgelegt wird – und das, obwohl sie nach dem Tod ihres Mannes längst mit dem Schreiben abgeschlossen hat.
Man erwartet zunächst einen „Perdu dans la traduction“, eine französische Variante von „Lost in Translation“, um die offenkundige Verwandtschaft zu Sofia Coppolas Kultkomödie mit Bill Murray ins Spiel zu bringen, wegen der Prämisse vom Zusammenprall von West und Ost, aber auch weil der Humor ähnlich trocken und drollig ist. Während der Blick Coppolas indes stets der einer Amerikanerin in einer fremden Kultur ist, ein bisschen belustigt und von oben herab, lässt Élise Girards Film sich auf Japan ein, geht in dem Land auf. Nicht zuletzt wird, wie sich alsbald herausstellt, eine Geistergeschichte erzählt: Sidonie, die selbst so unbehaust und ungerührt wirkt, erstarrt in einem Leben, das sich nicht mehr wie das ihre anfühlt, wie ein Schatten, wie ein Geist, wird im Verlauf der Handlung ihrem verstorbenen Ehemann begegnen, gespielt von August Diehl, dessen Erscheinen sich zunächst durch ein paar merkwürdige Ereignisse ankündigt: Das Fenster im Hotelzimmer, das sich eigentlich nicht öffnen lässt, ist sperrangelweit offen. Ihr eigentlich ordentliches Zimmer ist durcheinander. Und dann ist Antoine da, oder besser gesagt: kann Sidonie ihn sehen. Weil er doch immer dagewesen sei, wie er sagt, erst die besondere Stimmung in Japan ihre Wiederbegegnung möglich gemacht hat.
„Madame Sidonie in Japan“ erzählt von Möglichkeiten und zweiten Chancen, von der Aussicht auf ein neues Leben, auf Wiedererweckung und dem Abstreifen der Vergangenheit. Weil sich in diesem Film, der im Verlauf immer langsamer wird, der immer weiter auf Abstand geht, bisweilen wie in Bernstein gegossen wirkt mit menschenleeren Hotellobbys und Gängen, der schließlich sogar die Bilder spürbar verlangsamt und ganz am Ende eine Liebesszene nur mit Standfotos und Momentaufnahmen erzählt, auch ganz vorsichtig eine Zuneigung zwischen Sidonie und ihrem Verleger entwickelt, gespielt von dem wunderbaren Tsuyoshi Ihara, bekannt aus „Yakuza Princess“, „Letters from Iwo Jima“ oder „13 Assassins“, in dessen Französisch mit japanischem Akzent man sich sofort verliebt: Zunächst ist er aufmerksam an ihrer Seite, trägt ihren Koffer und nimmt ihr auch, zu ihrer großen Irritation, die Handtasche ab. Dann entwickelt sich Verständnis, sie erzählen einander ihre Geschichten. Und als Sidonie ihm dann freiwillig ihre Handtasche über die Schulter hängt, weiß man eigentlich, dass hier noch mehr geschehen wird. Wie es dann allerdings passiert, so zart und bescheiden und doch nur, weil der Geist von Antoine ein bisschen Anschubhilfe leistet, das ist einen Kinobesuch wert. Ein älteres Großstadtpublikum wird die ganz eigenen und eigenwilligen Qualitäten dieses wundersamen und so entzückend eigenartigen Films, der das Leben liebt, die Liebe, Japan und die blühenden Kirschbäume – Weltpremiere in Venedig 2023 im Rahmen der Gionate degli Autori, deutsche Premiere in Kürze auf dem Filmfest München -, zu schätzen wissen. Und natürlich die Darstellung von Isabelle Huppert, deren Mimik ganze Welten entstehen lässt, auch wenn die Kamera ihrem Gesicht niemals nahekommt.
Thomas Schultze