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REVIEW FESTIVAL: „The Substance“

Radikaler Schocker über eine in die Jahre gekommene Schauspielerin, die in einer schmerzhaften Prozedur ein jüngeres Double von sich erstellt.

CREDITS:
Land/Jahr: Großbritannien, USA, Frankreich 2024; Laufzeit: 140 Minuten; Regie, Drehbuch: Coralie Fargeat; Besetzung: Demi Moore, Margaret Qualley, Dennis Quaid; Verleih: Mubi

REVIEW:
In den Neunzigerjahren zählte Demi Moore zu den großen weiblichen Superstars des Hollywoodkinos. Aber kann man sich an eine überragende Darstellung von ihr erinnern, die mehr von ihr verlangte, als einfach nur die großartige Demi Moore zu sein? „Ghost – Nachricht von Sam“? „Eine Frage der Ehre“? „Ein unmoralisches Angebot“? „Striptease“? „Die Akte Jane“? Große Filme. Große Rollen. Aber nichts, wo sie sich hätte strecken müssen, über sich selbst hinausweisen. Wer wartet, dem widerfährt Gutes. Fast 40 Jahre nach ihrem Durchbruch mit „St. Elmo’s Fire“ feiert Demi Moore ihre Renaissance und wird als großartige Schauspielerin entdeckt. Ihrem tollen Auftritt in „Feud: Capote vs. The Swans“ folgt nun Demi Moores Tour de Force, ausgerechnet im neuen Film von Coralie Fargeat, die mit „Revenge“ vor sieben Jahren ihre Visitenkarte abgegeben hatte als konsequente Genreregisseurin, mit der zu rechnen ist. Und die nun mit „The Substance“ im Wettbewerb von Cannes, in den sie völlig überraschend eingeladen wurde, ihren Durchbruch feiert: Nach dem einen Tag zuvor gezeigten „Emilia Perez“ war ihre blutgetränkte Tour de Force mit Demi Moore als Norma Desmond des Body-Horror der zweite Film des 77. Jahrgangs, der die Presse zum Jubeln brachte – einen Tag bevor David Cronenbergs neuer Film gezeigt wird, der Gottvater des Subgenres, der ausgiebig zitiert wird von Fargeat. 

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(Credit: Mubi)

Natürlich ist „The Substance“ in erster Linie eine hypermoderne Neuinterpretation von Oscar Wildes „Das Bildnis des Dorian Gray“, nur dass das Bildnis hier tatsächlich noch lebt, im Wechsel mit der jüngeren, schöneren, vitaleren Ausgabe, die sich aus dem Original speist. Gleich die erste Szene lässt einen besonderen Film erhoffen: Man sieht in einer festen Zeitraffereinstellung von oben, wie am Walk of Fame die Schauspielerin Elisabeth Sparkle ihren Stern bekommt, der zunächst beklatscht und bewundert, dann aber zu verwittern beginnt und erste Brüche bekommt, bald schon in Vergessenheit gerät. Schnitt auf eine in die Jahre gekommene Elisabeth Sparkle, die lange schon keine Filmangebote mehr bekommt, stattdessen aber eine lukrative Karriere als Aerobic-Eintänzerin eingeschlagen hat. Machen wir uns nichts vor: Sie sieht Hammer aus mit Ende 50, Anfang 60. Aber eben nicht mehr Hammer genug für das jugendbesessene Showgeschäft. Ihr Produzent, hervorragend überzogen gespielt von Dennis Quaid, will sie durch eine jüngere Variante ersetzen. 

Weshalb Elisabeth aufhorcht, als sie von The Substance erfährt, eine geheime Prozedur, mit der man in einer schmerzhaften Transformation eine jüngere Fassung von sich selbst erstellen kann, die dann in einer strengen Wechselbeziehung zum Original funktionieren kann. Eine Woche das Original, eine Woche die Kopie, Sue, gespielt von der umwerfenden Margaret Qualley, die man in Cannes gerade erst in „Kinds of Kindness“ gesehen hat. Das geht nicht lange gut, weil Sue zu viel Appetit bekommt auf ihr aufregendes und erfolgreiches Leben und deshalb zu lange Energie von ihrem Wirt abzapft, was tragische Folgen hat. Das kennt man so ähnlich aus David Cronenbergs „Die Fliege“, und der einer Vagina ähnelnden Zugang im Rücken, aus der Energie gezapft wird, erinnert an eine ähnliche Öffnung, wie sie Marilyn Chambers unter der Achsel in „Rabid“ hat. Und das Wiedergängermotiv kennt man natürlich aus „Die Unzertrennlichen“. 

Das alles wäre aber nur die halbe Miete, wenn Coralie Fargeats Kontrolle über das Material und seine visuelle Umsetzung nicht so beträchtlich wäre, der Film nicht so unverkennbar gestaltet und fotografiert wäre. Klug gibt es Verweise auf andere Klassiker, eine Einstellung aus der Duschszene von „Psycho“ beispielsweise oder die Reise im Lichttunnel aus „2001“, die mit der ersten Wirkung von The Substance einhergeht. Dazu kommen noch die mutigen Darstellungen der beiden Hauptdarstellerinnen, die mit vollem Körpereinsatz spielen und mehr von sich zeigen, als man es von Schauspielerinnen ihrer Gehaltsklasse vermuten würde. Der Film ist ein Ritt, die große Eskalation zum Schluss ist vorbestimmt. Ich muss gestehen, dass ich kein ausgewiesener Fan des Showdowns war, in dem Fargeat alles in die Waagschale wirft, was das Genre hergibt: „Carrie“, John Carpenters „Das Ding“, „Freaks“, „Scanners“ (noch mehr Cronenberg), „Braindead“ finden sich als klare Verweise in dem blutigen Stück Grand Guignol, der den Film beschließt. Aber man muss die klare Vision bewundern, die radikale Entschlossenheit, dieses Fanal des transgressive cinemakonsequent bis zum Ende auszuerzählen. Und „The Substance“ einzureihen in die Ruhmeshalle des extremen Kinos, dem Cannes immer wieder ein Zuhause gibt, stolz Seite an Seite mit „Irreversible“, „Dreamlover“ und dem nächsten Verwandten, dem Goldene-Palme-Gewinner von 2022, „Titane“ von Julia Ducournau. Ob Demi Moore sich das vor einem Jahr auch nur ansatzweise hätte träumen lassen?

Thomas Schultze