Sozialstudie, Bikerfilm und Liebesgeschichte: Basierend auf Danny Lyons Fotoreportage von 1968, fängt Jeff Nichols Leben, Lieben und Kämpfen eines Motorradclubs im Wandel der Zeit ein.
FAST FACTS:
• Phänomenale Besetzung mit Austin Butler, Jodie Comer und Tom Hardy
• Überwältigende Rückkehr von Jeff Nichols auf die große Leinwand nach sieben Jahren Pause
• Basierend auf dem kultisch verehrten Fotobuch von Danny Lyons aus dem Jahr 1986
• Mit maximaler Authentizität realisiertes US-Kino at its best
• Hauptattraktion auf den großen amerikanischen Herbstfestivals
CREDITS:
Land / Jahr: USA 2023; Laufzeit: 116 Minuten; Regie, Drehbuch: Jeff Nichols; Besetzung: Austin Butler, Jodie Comer, Tom Hardy, Michael Shannon, Mike Faist, Norman Reedus, Boyd Holbrook; Verleih: Universal; Start: 20. Juni 2024
REVIEW:
Mit László Benedeks „The Wild One“ fing 1953 alles an. Marlon Brando, schwarze Lederjacke, kein Helm, störte als „Pate“ des „Black Rebel Motorcycle Club“ die Ruhe in einer verschlafenen US-Kleinstadt und ließ die Herzen der Petticoat-Girls höher schlagen. Auf einer Triumph Thunderbird 6T – heute längst Kult – saß er, seine Weltanschauung tat er mit einem gemurmelten Satz kund: „Ich mag keine Polizisten.“ Ein Film über den Konflikt zwischen braven Bürgern und aufmüpfigen Rebellen, ein „Problemfilm“, ein Sozialdrama.
Das Bikermovie war geboren. Ein Kassenerfolg – und, damals wie heute den Gesetzen des Marktes folgend, sprang die Filmindustrie auf die Zweiräder auf. Folgte Johnny Strabler alias Brando, der final auf seiner Maschine in den Sonnenuntergang braust. Ein Outlaw, ein motorisierter Westerheld, der auf mehr als nur ein PS setzt. Das Genre boomte. Bikesploitation war angesagt: „Motorpsycho“ von Russ Meyer, „The Wild Angels“ von Roger Corman, „Hells Angels on Wheels“ von Ricard Rush, „The Losers“ von Jack Starrett. Und natürlich „Easy Rider“ von Dennis Hopper. „Get your motor runnin’. Head out on the highway. Lookin’ for adventure…“ sangen die Jungs von Steppenwolf. „Born to Be Wild“. Der Songtitel war leitmotivisch zu verstehen. Bis zwei Hillbillys Wyatt alias Captain America und Billy, Peter Fonda und Hopper, mit ihrer Schrotflinte von ihren Choppern schossen. Vorbei war’s mit der grenzenlosen Freiheit. Film wie immer als Spiegel der Welt.
Zeitlich und thematisch zwischen „Der Wilde“ und „Easy Rider“ siedelt Jeff Nichols („Loving“) „The Bikeriders“ an. Beiden Hits wird Referenz erwiesen. Dem einen auf einem TV-Bildschirm, dem anderen vor einem Kino, wo Funny Sonny (ideal besetzt: Armbrustschütze Norman Reedus aus „The Walking Dead“) im typischen Outfit auf einem schweren Motorrad sitzend zum Eintritt auffordert. Unwillkürlich muss man an Ralph Hubert „Sonny“ Barger denken, legendärer „Hell’s Angels“-Präsident, der als Schauspieler in Biker-Movies mitwirkte und ob seines Insiderwissens bei diesen gerne als Berater verpflichtet wurde.
Als Vorlage diente dem Regisseur wiederum Danny Lyons 1968 als Fotobuch erschienene Reportage über den „Chicago Outlaws Motorcycle Club“, das er nach eigenem Drehbuch für die Leinwand adaptiert hat. Für seinen Helden Benny (Austin Butler) dreht sich das Leben um zwei Dinge: den von seinem Kumpel Johnny (Tom Hardy) geleiteten Motorrad-Club namens „Vandals“ und seine Frau Kathy (Jodie Comer), die er kurz nach dem Kennenlernen geheiratet hat und die ihn ob seiner unzähmbaren Art, mal wild, mal herzlich, liebt.
Aus ihrer Sicht wird die Geschichte aufgerollt. Dem jungen (Kunst-)Studenten Danny Lyons (Mike Faust), der sein Uni-Praktikum bei den „Vandals“ absolviert, erzählt sie – cool und abgeklärt – vom Werden und Wesen der Gang, von deren Aufstieg, deren Ritualen, den Streits und Ausritten. Die nonchalant aufspielende Comer („Killing Eve“) ist die Seele des Films. Vergleichbar mit Lorraine Bracco als Karen in Martin Scorseses „GoodFellas“. Eine hart arbeitende, selbstbewusste Arbeiterfrau, freiwillig gefangen in einem Alltag, den sie so nicht für sich geplant hatte. Aber ihr Herz gehört nun mal Benny, mit dem sie durch dick und dünn geht. Dabei ihren eigenen Kopf behält, über Männlichkeitsriten und Clubregeln schmunzelt und die (Bad) Boys der Clique jederzeit spielerisch im Griff – besser: an den Eiern – hat.
Ein zarter Liebesfilm im Subtext. Äußerlich Machismo pur. Die „Vandals“ – unter ihnen der von der Musterungsbehörde abgelehnte Zipco (Michael Shannon), Cockroach, die bullige „Kakerlake“ (Emory Cohen), der loyale „Leutnant“ Brucie (Damon Herriman) und die zuverlässigen Fußsoldaten Corky (Karl Glusman) and Wahoo (Beau Knapp) – lassen ihre Muskeln spielen. Geben Gummi, brettern auf ihren individuell gestalteten Maschinen – US- und europäische Modelle, keine japanischen „Reisschüsseln“ – über Stock und Stein. Sitzen am Lagerfeuer, lassen sich volllaufen, prügeln – „Messer oder Fäuste?“ – und versöhnen sich. Bei ihren (Gockel-)Kämpfen beobachtet von den heiser krächzenden Biker-Babes, die rauchend die Picknicks organisieren. Subkultur pur. Nostalgisch verbrämt. In wunderbar warmen Farben von Kameramann Adam Stone eingefangen, musikalisch passend untermalt von David Wingo, die sich beide schon bei Nichols’ „Midnight Special“ ideal ergänzt hatten.
Mit einer klugen finalen Wendung. Jegliche vermeintliche Romantisierung der Biker wird da zunichte gemacht. Kathy steht Lyons 1973 noch einmal Rede und Antwort. Berichtet was aus den „Vandals“ geworden ist. Eine neue, rücksichtslose Crew hat die Macht übernommen. Skrupellose Kriminelle, die ihr Geld mit Drogen und Prostitution verdienen, vor Mord und Totschlag nicht zurückschrecken. Und dann kommen zum Abspann noch ein paar Fotos von Lyons ins Bild. Die machen Lust, sich auf die Norton, BSA oder Royal Enfield zu schwingen, den Kickstarter zu betätigen – Elektrostarter sind für Pussies – und sich den Fahrtwind um die Nase wehen zu lassen. Mit einem Zwischenstopp im Kino versteht sich.
Gebhard Hölzl