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REVIEW KINO: „Dieses Gefühl, dass die Zeit, etwas zu tun, vorbei ist“

Episodenhafte, schräge, bissig-scharfe und tiefgründige Indie-Komödie über die (BDSM-)Beziehungen einer frustrierten New Yorker Mittdreißigerin.

CREDITS:
O-Titel: The Feeling That the Time for Doing Something Has Passed; Land/Jahr: USA 2023; Laufzeit: 87 Minuten; Drehbuch: Joanna Arnow; Regie: Joanna Arnow; Besetzung: Joanna Arnow, Michael Cyril Creighton, Scott Cohen, Alysia Reiner, Parish Bradley; Verleih: 24 Bilder; Start: 12. Dezember 2024

REVIEW:
In ihren mehrfach preisgekrönten filmischen Experimenten beschäftigt sich Joanna Arnow mit gesellschaftlicher Unterdrückung, dysfunktionalen Beziehungen, mit Sexualität – und mit sich selbst. Ihr autobiografischer Dokumentarfilm „I hate myself :)“ ist eine Langzeitbeobachtung ihrer toxischen Affäre mit einem Open-Mic-Künstler, der Kurzfilm „Bad at Dancing“ ein Kammerspiel, in dem sie sich als eifersüchtige Rivalin zwischen ihre Mitbewohnerin und deren Freund drängt. Auch in ihrem Spielfilmdebüt, bei dem sie für Drehbuch, Regie und Schnitt verantwortlich zeichnet, spielt die New Yorkerin die Hauptrolle, um erneut eigene sexuelle und emotionale Grenzen auszutesten. Die Perspektive, der nackte Realismus, der Mumblecore-Look und -Charakter erinnern an Filme von Lena Dunham und Miranda July, die außergewöhnliche Inszenierung trägt jedoch die sehr persönliche Handschrift von Joanna Arnow und lässt tief in die Seele einer Frau blicken, die nichts von sich preisgeben will, die nicht etwa nach Anerkennung und Zuneigung sucht, sondern nach Ablehnung. „Dieses Gefühl, dass die Zeit, etwas zu tun, vorbei ist“ ist ein verblüffend offenherziger, unverblümter und selbstironischer Film, der seinen schrägen Humor einer raffinierten Erzählsprache verdankt, die mit unkonventionellem Schnitt, starrem Kamerablick und präzise gewähltem Bildausschnitt die Verschlossenheit und Entfremdung der Hauptfigur einerseits hervorhebt, andererseits subtil untergräbt.

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„Dieses Gefühl, dass die Zeit etwas zu tun, vorbei ist“ von Joanna Arnow (Credit: 24 Bilder)

In verschiedenen Situationen, zwischen denen mal mehr, mal weniger Zeit vergeht, trifft Arnows mit radikaler Selbstlosigkeit verkörpertes Alter Ego auf Personen, die sie mitunter ihr ganzes Leben kennt, die aber nichts von ihr wissen oder wissen wollen. Die herausragende Charaktereigenschaft von Ann – ihren Namen erfährt man erst nach etwa einer halben Stunde Laufzeit – ist ihre Unauffälligkeit. Sie verhält sich so zurückhaltend, dass man sich fragen muss, ob sie überhaupt eine Persönlichkeit besitzt. Vor und hinter der Kamera wird alles Mögliche unternommen, um dieses Gefühl der Nichtexistenz zu verstärken, jede Individualität zu ignorieren. Ihre Stimme ist ton-, die Mimik ausdruckslos. Die Einzimmerwohnung in Brooklyn ist ebenso nichtssagend wie das Brillengestell, die Frisur, die schlechtsitzende Kleidung. Sogar das konsistenzlose Mikrowellenessen, das sie deshalb mag, „weil es schwer im Magen liegt“, wirkt wie eine Selbstbestrafung. 

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„Dieses Gefühl, dass die Zeit, etwas zu tun, vorbei ist“ von Joanna Arnow (Credit: 24 Bilder)

Überall lauern Demütigungen, im Yogakurs wird sie abschätzig gemustert, bei der Arbeit gratuliert man ihr zum einjährigen Jubiläum, obwohl sie seit drei Jahren dabei ist. Es spielt nicht einmal eine Rolle, worum es bei ihrer eintönigen Computertätigkeit überhaupt geht. Die Aufgabe besteht vor allem darin, den eigenen Job überflüssig zu machen, wie es an einer Stelle lakonisch heißt. Von ihrem Vorgesetzten Karl (Michael Cyril Creighton) wird sie herumkommandiert, mit ihrer Schwester (Alysia Reiner) hat sie nichts mehr gemeinsam, das Verhältnis zu ihren Eltern (gespielt von den richtigen Eltern der Filmemacherin) wird von der passiv-aggressiven Haltung der Mutter diktiert. Wenn sie sich mit Männern trifft, die sie über eine BDSM-Website kennenlernt und nach denen die fünf Kapitel des Films benannt sind, ist sie grundsätzlich die willige Untergebene. Der ältere geschiedene Finanzmanager Allen (Scott Cohen) stellt ihr jedes Mal die gleiche Frage und kann sich gerade mal ihren Vornamen merken; der attraktive Komponist Thomas (Peter Vack) beschließt nach kurzer Zeit, zu seiner Ex zurückzukehren; der unzugängliche Elliot (Parish Bradley) verlangt, dass sie Playboy-Bunny-Ohren und eine Schweineschnauze trägt, während er sie beleidigt.

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„Dieses Gefühl, dass die Zeit, etwas zu tun, vorbei ist“ von Joanna Arnow (Credit: 24 Bilder)

Die Überschriften wirken wie Platzhalter, wollen nicht so recht zum Inhalt der jeweiligen Kapitel passen. Der Film ist nicht klar strukturiert, eher unentschlossen, undiszipliniert. Es ist eine träge, mehr oder weniger lose Aneinanderreihung von Begegnungen mit Kollegen, Familienmitgliedern, Freunden, BDSM-Partnern, ohne Höhepunkte. Mal unterstreicht der Schnitt Ähnlichkeiten zwischen den Erzählsträngen, also Lebensbereichen, ein anderes Mal kontrastiert er sie auf absurd komische Art. In einem Moment beklagt Ann, dass ihre Mutter an allem, was sie sagt, etwas auszusetzen hat und sie daher am liebsten gar nicht mehr den Mund aufmachen möchte, im nächsten wird sie von Allen mit einem Sexspielzeug zum Schweigen gebracht. Das Provokanteste ist die wortwörtliche Lustlosigkeit der Sexszenen: Arnow ist nicht an subversiver Kinkiness interessiert oder daran, einen der Beteiligten lächerlich zu machen. Sie erforscht die kommunikative Seite des Rollenspiels, das gegenseitiges Vertrauen, Einvernehmen, Zustimmung verlangt, und das die einzige emotionale Bindung im Leben einer Frau darstellt, die sich sogar von sich selbst distanziert hat. 

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„Dieses Gefühl, dass die Zeit, etwas zu tun, vorbei ist“ von Joanna Arnow (Credit: 24 Bilder)

Es gibt keine Nahaufnahmen, alles ist in langatmigen, unaufgeregten Einstellungen gefilmt. Der Bildausschnitt ist das Gegenteil von intim, obwohl in jeder der gezeigten Situationen Menschen zusammenkommen (oder eben nicht). Die Figuren sprechen zu-, nicht miteinander, der Sprachrhythmus, die Intonation der Schauspieler scheint in gewisser Weise die SM-Dynamik widerzuspiegeln. Beiläufige Wörter und Sätze erhalten eine Bedeutung, die sich erst im Kontext mit einem darauffolgenden Ereignis erschließt und nach und nach Aufschluss über die Gefühlswelt der Protagonistin liefert, die eben nur diesen einen Beziehungstyp kennt, in einer frustrierenden Langeweile gefesselt ist, in der Zwanghaftigkeit, immer nur Dinge zu tun, die sie nicht möchte, und selbst das fragwürdigste BDSM-Vergnügen ist offenbar ein Versuch, die gewohnte Erniedrigung ihres weiblichen Daseins zu genießen.

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„Dieses Gefühl, dass die Zeit, etwas zu tun, vorbei ist“ von Joanna Arnow (Credit: 24 Bilder)

Als sich die Möglichkeit bietet, aus der lähmenden Routine auszubrechen – eine drohende Umstrukturierung („This is very troubling!“) am Arbeitsplatz wird auf alle Ebenen ausgedehnt, das Schnitttempo wird abrupt gesteigert, Szenen werden plötzlich mit Musik und Dialog überblendet – wagt Ann einen etwas unmotivierten Anlauf, Bekanntschaften über konventionelle Dating-Apps zu schließen. Mit dem sympathisch aufrichtigen Musiker Chris (Babak Tafti) bahnt sich tatsächlich so etwas wie eine Romanze an. Er ist der Einzige, der sich wirklich für ihre Bedürfnisse interessiert, der sie wie einen Menschen, nicht wie ein Sextoy behandelt, er ist so offen und ehrlich, dass auch Ann sich öffnet und die Kamera ihre starre Position verlässt. Während die Hauptfigur in Gegenwart ihres jeweiligen Masters meist vollständig nackt ist, schonungslos ihre Verletzlichkeit entblößt, behält sie in diesem Fall auch im Bett buchstäblich die Hosen an, was ihr schwerer fällt, als zum Beispiel unter Elliots strengem Blick im Häschenkostüm auf einem Hochhausdach zu masturbieren. Da Chris mit Unterwerfungspraktiken nicht so vertraut ist, demütigt sich Ann selbst, indem sie sich ihm gegenüber als Andrew-Lloyd-Webber- und Musical-Fan outet und eine quälend lange Sequenz aus „Les Misérables“ nachspielt. Wie sich herausstellt, arbeitet Chris an einem Song, dem der Film seinen Titel verdankt, und der zum Schluss jeden Gedanken daran vertreibt, dass Ann insgeheim doch auf die wahre Liebe oder eine Form von Intimität hofft, vor der sie offensichtlich Angst hat. Stattdessen findet sie in ihrem Bemühen, sich auszublenden, zu sich selbst, was so rührend komisch und ironisch ist wie die Tatsache, dass ein Film, der ebenfalls alles dafür tut, nicht gemocht zu werden, am Ende genau das Gegenteil erreicht.

Corinna Götz