Neuerzählung der Geschichte des Schweizer Nationalhelden als aufregendes Historienspektakel mit Schlachtenaction galore.
FAST FACTS:
• Verfilmung der klassischen Geschichte als berauschendes Mantel-und-Degen-Epos
• Hochkarätige Besetzung mit Claes Bang, Emily Beecham, Golshifteh Farahani, Rafe Spall, Jonathan Pryce und Ben Kingsley
• Hoher Produktionsaufwand, große Schauwerte
• Weltpremiere auf dem 49. Toronto International Film Festival
• Europapremiere auf dem 20. Zurich Film Festival
CREDITS:
O-Titel: William Tell; Land / Jahr: Vereinigtes Königreich, Italien 2024; Laufzeit: 133 Minuten; Regie & Drehbuch: Nick Hamm; Besetzung: Claes Bang, Emily Beecham, Connor Swindells, Golshifteh Farahani, Jonah Hauer-King, Ellie Bamber, Jonathan Pryce, Ben Kingsley, Rafe Spall; Verleih: SquareOne
REVIEW:
Die Axt im Film erspart unnötige Subtilität: Der ureigentliche Spaß an Nick Hamms Interpretation der mythischen Geschichte des Schweizer Nationalhelden besteht gerade in der großen Geste, dem dicken Pinselstrich, der gewagten Neuerfindung der dem Schweizer Grundverständnis innewohnenden Saga von Freiheitskampf und dem Streben nach Unabhängigkeit als rauschendes und berauschendes Mantel-und-Degen-Abenteuer mit einem Wilhelm Tell, der sich von Robin Hood dadurch unterscheidet, dass er mit einer Armbrust schießt und von Claes Bang wortkarg gespielt wird, als wäre er der Clint Eastwood des 14. Jahrhunderts. Der britische Autor und Regisseur stülpt über das grobe Gerüst von Schillers letztem Schauspiel aus dem Jahr 1804 das Kostüm eines Ridley-Scott-Eventmovies, schmückt die markanten Schlüsselmomente dieser Vorlage aus zu episch durchchoreographierten Actionszenen, die auch in einem „Herr der Ringe“ oder „Gladiator“ nicht fehl am Platze wären, und nimmt sich schließlich im dritten Akt zunehmend künstlerische Freiheiten, um dem Publikum mehr zu geben, als wohlfeile Absichtserklärungen, sondern einen Showdown, in dem es mehr zur Sache geht, als Puristen es gutheißen werden, das Publikum aber auf seine Kosten kommt. Die hohle Gasse allein ist nicht genug!
Kommen ein Däne und eine Iranerin ans Set, begeben sich in die Hände eines Briten und zeigen die Schweiz, wie man sie wohl noch nie auf der Leinwand gesehen hat. „Wilhelm Tell“ ist ein massives Unterfangen, eine durch und durch internationale Großproduktion, gedreht in der Schweiz und Italien, nur möglich gemacht, weil die Schweizer Philanthropin Marie-Christine Jaeger-Firmenich nach ihrer guten Erfahrung mit Nick Hamm bei ihrem Leib- und Magenprojekt „Gigi & Nate“ ein offenes Ohr hatte für seine Vision, die einerseits respektlos ist, gewiss, aber anderseits dem Ernst der Themen gerecht wird. Die Erzählung ist auf Unterhaltung und Schauwerte getrimmt, es wird gekämpft und geblutet und gestorben, dass es eine Art hat, und auch einige dem Zeitgeist geschuldete Modernisierungen können nicht ausbleiben. Wer würde heute noch die Frauen auch – oder gerade! – in einer Schiller entlehnten Erzählung als passive Figuren sehen wollen, die den Männern ehrfurchtsvoll hinterherwinken, wenn sie losziehen, den unmenschlichen Besatzern die Stirn zu bieten. Nick Hamm lässt sie selbst das Schwert führen, als hätten sie nie etwas anderes gemacht, und gerade bei den entscheidenden Diskussionen Wort- und Rädelsführer sein. Pustet die Spinnweben gut weg, der Film! Und findet auch plausible Gründe, Tells Frau keine Hedwig, sondern eine Suni sein zu lassen, gespielt von Golshifteh Farahani, die Tell in seiner Gemeinde noch mehr isoliert sein lässt.
Die zentrale Szene des Films ist der Moment, den die gesamte Welt mit Wilhelm Tell in Verbindung bringt: Weil er sich geweigert hat, den vom Landvogt Gessler aufgesteckten Hut zu grüßen, wird er verhaftet und von Gessler gezwungen, vom Kopf des eigenen Sohnes zur Rettung beider Leben und für seine Freilassung einen Apfel zu schießen. Damit beginnt der Film, der dann vor Abfeuern des Pfeils einen Sprung drei Tage zurück macht, um dann ungefähr in der Mitte des Films wieder bei dieser Szene zu landen, das Herzstück, das seine inhärente Spannung nutzt, um auch seine wichtigsten Themen in aller Ausführlichkeit zu verhandeln. Bis dahin hält sich dieser gewagte „Wilhelm Tell“ noch relativ eng an der klassischen Vorlage, um dann spätestens ab der hohlen Gasse eigene Wege zu gehen und mit Beginn des dritten Akts Schiller komplett hinter sich zu lassen: Der Showdown ist pures Kintopp, rüttelt einen einmal kräftig durch, trennt die Spreu vom Weizen und stellt einerseits die Helden auf, als würde Hamm die glorreichen Sieben versammeln, führt aber gleichzeitig eine neue Bedrohung ein, die den Film förmlich mit einem Cliffhanger enden lässt. Die Schlacht ist geschlagen, der Krieg aber noch lange nicht gewonnen. Wer von der Starriege, zu der auch Emily Beecham, Rafe Spall, Jonathan Pryce und Ben Kingsley gehören, sein Leben lassen muss, wird hier nicht verraten. Aber sollte ein Sequel tatsächlich realisiert werden, müssen sich nicht alle von ihnen einen Platz im Terminkalender freihalten.
Thomas Schultze