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REVIEW TV/STREAMING: „Marzahn Mon Amour“


Hinreißende Dramedy-Serie nach dem autofiktionalen Bestseller „Marzahn, mon amour: Geschichten einer Fußpflegerin“ von Katja Oskamp.

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„Marzahn Mon Amour“ (Credit: ARD Degeto Fim/UFA Fiction GmbH/Oliver Vaccaro)

CREDITS: 
Land/Jahr: Deutschland 2025; Laufzeit: 6 x 25 Minuten; Drehbuch: Leona Stahlmann, Niklas Hoffmann, Antonia Rothe-Liermann; Regie: Clara Zoë My-Linh von Arnim; Besetzung: Jördis Triebel, Yvonne Yung Hee Bormann, Deborah Kaufmann, Maja Bons, Ursula Werner, Carl Heinz Choynski, Eva Weißenborn, Monika Lennartz, Hermann Beyer; Plattform: ARD Mediathek; Sendetermin: 14. März 2025

REVIEW:
Es ist nur eine Phase, vielleicht ein Übergangsjob, beruhigt Kathi (Jördis Triebl) ihre 18-jährige Tochter Lilly (Maja Bons): Mitten in der berüchtigten Mitte des Lebens, „in diesen verschwommenen Jahren, in denen man herumstrampelt und sich ratlos um sich selbst dreht, mit der Angst, auf halber Strecke unterzugehen“, macht die Schriftstellerin eine Umschulung zur Fußpflegerin. Klingt nach einem „fulminanten Absturz“, aber Wunder gibt es immer wieder, oft dort, wo man sie nicht vermutet, in der ARD Mediathek, in Berlin-Marzahn und in der „Beauty Oase“ von Kosmetikerin Jenny (Yvonne Yung Hee Bormann) und ihrer Mitarbeiterin, Nageldesignerin Lulu (Deborah Kaufmann), zu denen nun Kathi als Podologin stößt. Ein Trio mit Gesundheitsschuhen (Jenny), Cowboystiefeln (Lulu) und Crocs (Kathi) in einem von außen betrachtet unattraktiven Schönheitssalon in der einst größten Plattenbausiedlung der DDR, in der die Zeit, irgendwie, irgendwann nach der Wende stehen geblieben ist, was sich nicht nur in der Einrichtung, in den bunten Glasbausteinen und der Fototapete mit Palmenmotiv widerspiegelt. Der Cappucchino wird mit Sprühsahne serviert (ab der zweiten Episode nur noch gegen Aufpreis), der Zahn der Zeit nagt am Inventar, an unfachmännisch verlegten Leitungen und am Geldbeutel, das Trinkgeld wird knapper, die Nebenkostenabrechnung sorgt für Existenznot. Im Laufe der sechs Folgen, in denen das Küchenkonzept eines China-Restaurants auf der Werbetafel gegenüber von „Vietnamesisch-Chinesisch“ über „Sushi“ bis zu „Boba Tea“ und wieder zurück wechselt, wird die Luft dicker, die Sommerhitze steigt, folglich dehnen sich auch die Probleme aus. Jennys finanzielle Krise spitzt sich zu, Lulus Modernisierungspläne scheitern nicht nur am Budget. Der von einem Ex-Freund professionell („er ist Gerüstbauer!“) programmierte Online-Auftritt führt zu Doppelbuchungen und negativen Bewertungen. Ein verlockendes Angebot könnte das Careworkerinnen-Trio auseinanderreißen. Kathis große Angst vor dem Alleinsein wird wahr, als Lilly beschließt, ans Ende der Welt zu ziehen. Die Oase droht zur Wüste zu werden. 

V.l.: Jördis Triebel als Kathi Grabowski, Yvonne Yung Hee Bormann als Jenny Chan und Deborah Kaufmann als Lulu Moll
„Marzahn Mon Amour“ (Credit: ARD Degeto Film/UFA Fiction/Oliver Vaccaro)

Wie in den einzelnen Kapiteln von Katja Oskamps autofiktionalem Roman wird in jeder Folge ein anderes Paar Füße in Augenschein genommen, Kathi zur Zuhörerin der unerwarteten und rührenden Erzählungen ihrer Kundschaft, die im hydraulischen Sessel vor ihr thront. Für kurze Zeit taucht man ein in das Dasein von Rentnerinnen, Ex-Funktionären und Plattenbaubewohnern, die sich vertrauensvoll in die Hände der Protagonistin begeben, vom „alten Parteibonzen“ (Hermann Beyer), der schon ihrer Mutter nachgestiegen ist und nun auch Kathi Geschlechtsverkehr anbietet, bis zum reizenden Ehepaar (Ursula Werner und Carl Heinz Choynski), das sich auf die goldene Hochzeit vorbereitet und darüber in Streit gerät. Der Zuschauer erfährt einiges über Altersarmut und Einsamkeit, über das Entfernen von Hühneraugen und wo der Eierlikör steht. Die Kamera von Falko Lachmund („Die Saat“) versinkt in den Gesichtern der Schauspieler, die ihre Geschichten auch ohne Worte erzählen, die auch Jördis Triebel mit aufmerksamem Blick in sich aufsaugt. Mit Hornhauthobel und Samthandschuh diktiert sie die Handlung. Ihre Figur ist Seelsorgerin, Therapeutin und Trauerbegleiterin in einer Person, die Fußpflege als Akt der Selbstliebe betreibt und „sich im weißen Kittel unbemerkt in den Kunden spiegelt, die ihr gegenübersitzen und ihr Herz ausschütten, weil sie vor vierzig Jahren nach Marzahn gezogen sind und jetzt mit Rollator, Beatmungsgerät und Mindestrente tapfer ihr Leben zu Ende bringen, tagelang mit niemandem reden, für jede Berührung dankbar und glücklich sind an diesem Ort, an dem sie nicht wie die Vollidioten der Nation behandelt werden“. 

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„Marzahn Mon Amour“ (Credit: ARD Degeto Film/UFA Fiction GmbH/Oliver Vaccaro)

Der respektvolle, fürsorgliche Ton der literarischen Vorlage bestimmt die behutsame Inszenierung von Clara Zoë My-Linh von Arnim, die unter anderem bei der besten deutschen Serie des vergangenen Jahres, „Die Zweiflers“, Regie führte. Menschen, die für gewöhnlich unsichtbar sind oder sich so fühlen, treten ins Rampenlicht. Niemand wird belächelt oder von oben herab betrachtet, sondern auf Fußhöhe, von ganz unten, nah an der Realität, in der Glück und Unglück, Tragik und Komik meist eng beieinander liegen, wie in dem Moment, in dem Jenny zum Weinen in die Autowaschanlage fährt. Man staunt mit Ehrfurcht über die Szene, in der die 84-jährige Granfluencerin (Eva Weißenborn) nach einem erfolglosen Bewerbungsgespräch im Vivien-Westwood-Gedächtnislook „Für mich soll’s rote Rosen regnen“ anstimmt. Man ist zu Tränen gerührt, als sich Lulu am helllichten Tag in der Bierkneipe zu „No More ‚I Love You’s‘“ von Annie Lennox die Seele aus dem Leib tanzt. Das junge Autor:innentrio Leona StahlmannNiklas Hoffmann und Antonia Rothe-Liermann hat den lyrischen Charakter der Vorlage stimmig ins Serienformat übersetzt. Der Originaltext wird am Anfang, am Ende und hin und wieder zwischendurch von Jördis Triebels Erzählerinnenstimme aus dem Off zitiert –  vielleicht auch als Verweis auf die Hommage an das Nouvelle-Vague-Meisterwerk „Hiroshima, Mon Amour“, die im Titel des Bestsellers mitklingt, der selbst wie eine skizzenhafte Montage anmutet, von Vignetten, Kurzgeschichten und Erinnerungen an den Mikrokosmos der Plattenbausiedlung, die DDR-Vergangenheit und die Zeit nach dem Mauerfall, daran, wie dieser das Leben in einem der ärmeren Stadtviertel von Berlin verändert hat. Zwischen Behandlungsterminen und Raucherpausen gleitet die Kamera im poetischen Gegenlicht durch die aufgeräumte Hochhaussiedlung, in der der sozialistische Fortschrittsglaube längst verblasst ist, das Gemeinschaftsgefühl aber noch in den Betonritzen steckt, beobachtet junge Menschen beim Filmen von TikTok-Videos, wobei sich gelegentlich ein Passant mit Gehhilfe durchs Bild schiebt. Marzahn-Melancholie, wie man sie nicht für möglich gehalten hätte, eine Serie wie eine Fußmassage, zärtlich, liebevoll, manchmal ein bisschen kitzlig.

Corinna Götz