Fernsehfilm-Highlight: Der Selbstmord des Großvaters kurz vor seinem 80. Geburtstag führt zur Zerreißprobe in seiner Familie.

FAST FACTS:
• Einfühlsam erzähltes Ensembledrama mit Christian Berkel und Andrea Sawatzki als Geschwisterpaar
• Produziert von Christian Berkel und Andrea Sawatzki mit ihrer Firma A Couple of Pictures und Claussen + Putz im Auftrag von BR und Arte
• Zweite Zusammenarbeit von Regisseurin Nicole Weegmann („Das Leben danach“) und Drehbuchautorin Esther Bernstorff („Das Fremde in mir“) nach dem Mutter-Tochter-Drama „Ein Teil von uns“
• Premiere auf dem Festival des Deutschen Films in Ludwigshafen, nominiert für den 3sat Publikumspreis und den Fernsehfilmpreis der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste bei der TeleVisionale in Baden-Baden
CREDITS:
Land/Jahr: Deutschland 2025; Laufzeit: 89 Minuten; Drehbuch: Esther Bernstorff; Regie: Nicole Weegmann; Besetzung: Christian Berkel, Bibiana Beglau, Andrea Sawatzki, Thomas Prenn, Stella Kann, Ursula Werner, Rainer Kühn, Stephan Zinner; Sender/Plattform: ARD; Sendetermin: 12. Februar 2025
REVIEW:
Er lege sich lieber schon mal hin, sagt Opa Joachim (Rainer Kühn) und überlässt die Streitigkeiten um die Tischordnung für die bevorstehende Feier zu seinem 80. Geburtstag dem Rest der Familie. Sekunden später knallt ein Schuss im Zimmer nebenan – der Suizid kommt plötzlich und ohne Abschiedsbrief, trifft vor allem Joachims Sohn Andreas (Christian Berkel) wie aus heiterem Himmel. „Wir brauchen Hilfe“, stammelt er ins Telefon, nachdem ihn seine Frau Bibi (Bibiana Beglau) pragmatisch daran erinnert, den Notruf zu wählen. Dem Schock und der Ohnmacht folgt schnell die Wut, die an Andreas nagt, der sich nie von seinem Vater geliebt und respektiert gefühlt hat und nun feststellen muss, dass alle anderen auch noch besser über dessen Gemüts- und Gesundheitszustand Bescheid wussten. Sein eigener Sohn Clemens (Thomas Prenn), der als Arzt in die Fußstapfen des Großvaters tritt, kann als dessen engster Vertrauter mit Sicherheit sagen, dass Joachim nie glücklich über die Wohnsituation war, darüber, dass Andreas mit seiner Familie wieder zurück ins Elternhaus gezogen ist – allein hätten sie es nach der Geburt von Tochter Stella (Stella Kann) als Doppelverdiener ja nicht geschafft, sagt Bibi an einer Stelle. Der Film spielt fast ausschließlich unter dem Dach und im Garten des 60er-Jahre-Bungalows, der schon bessere Zeiten gesehen hat, über den sich jetzt die Stille nach dem Schuss, der Schatten der Trauer legt. Die hochsommerliche Atmosphäre wirkt eher dystopisch, der ausgedörrte Rasen wie eine Naturkatastrophe, die sich anbahnte und ignoriert wurde – „alles vertrocknet“, ärgert sich Joachim in der ersten Szene, bevor er sich die Kugel gibt.
Andreas’ psychisch labile Schwester Ulrike (Andrea Sawatzki), die von den Eltern stets vorgezogen wurde, scheint der Selbstmord ebenso so wenig zu überraschen wie Joachims aus Paris angereiste frühere Geliebte, die trinkfreudige, unangepasste Bernadette (Ursula Werner). Die Figurenkonstellation erschließt sich nicht auf den ersten Blick, nach und nach werden die Puzzleteile wie in einem Krimi aufgedeckt und später zusammengesetzt. Die Frage nach dem Motiv für die Tat tritt in den Hintergrund, dafür bringt die Suche nach Antworten lange verdrängte Konflikte an die Oberfläche. Geschliffene, lebensechte Dialoge bohren sich in die Seele der Charaktere, die Bühne gehört dem fantastischen, großartig gecasteten Schauspielerensemble, dem man sogar die optische Ähnlichkeit abnimmt. Die Kamera von Julian Krubasiklässt den Darstellern Raum, rückt ihnen nie zu nahe, oft liegt eine stille, berührende Komik in den Bildern. In embryonaler Haltung rollt sich Andreas zwischen Bibi und Stella auf dem Ehebett zusammen. Mit bis zum Kinn angezogenen Knien hockt er in einem Kindersessel und streitet mit Clemens darüber, wer von ihnen Anspruch auf das Erbstück hat, bis er mit Gewalt davon getrennt werden muss. In dem Moment, in dem sein Vater stirbt, wird der Sohn wieder zum Kind, „da muss man eben einfach nochmal durch, durch die gottlose Einsamkeit der Kindheit“, philosophiert Bernadette, „here comes your ghost again“ kommentiert Joan Baez im Hintergrund. Die Handkamera schwankt und wackelt, als Andreas seinen inneren Kompass verliert – Christian Berkel ist herzzerreißend gut in dieser vielleicht stärksten, facettenreichsten Rolle seiner Karriere, zurückgenommen, ohne Theatralik und große Gesten, zeigt er jede Phase der Trauer und des Zorns in seinem Gesicht, die klaffende Wunde des Querschlägers, der seine Figur innerlich zerreißt und alles aufwühlt, den verletzten Stolz, die männliche Eitelkeit, Selbstzweifel, Eifersucht, Schuldgefühle.
Es geht um das Schweigen zwischen den Generationen, die Dämonen der Eltern, die vor den Kindern verborgen bleiben sollen, um Verhaltensmuster, die vererbt werden. Hilflos muss „Sternchen“ Stella, die in vielerlei Hinsicht ihrer sensiblen Tante ähnelt, mit ansehen, wie Türen vor ihr verschlossen werden, wie ihre Familie auseinanderdriftet, sie selbst an den Rand gedrängt wird und irgendwann unbemerkt aus dem Blickfeld verschwindet. Das reinigende Gewitter des letzten Akts, auf das alles hinausläuft, liegt von Anfang an in der Luft. Auch hier kommt die ruhige, einfühlsame Inszenierung ohne Lärm und Melodramatik, ohne Blitzeinschlag und Donnergrollen aus. „Querschuss“ ist näher an „Drei Töchter“ als an „Im August in Osage County“ und noch näher an der Realität. Die Dynamik ist vertraut, man erkennt sich selbst und die eigene Familie mitunter haarscharf und wortwörtlich wieder, das Drehbuch scheut kein gesellschaftliches Tabuthema. Das könnte leicht erdrückend wirken, wären da nicht die Nebenfiguren, die in regelmäßigem Abstand an der Tür klingeln, um die Anspannung zu unterbrechen, die verliebte Nachbarin (Ingrid Resch), die nicht über das Ableben des Jubilars informiert wurde, der Catering-Service, der sich nicht kurzfristig absagen ließ. Alles kommt auf den Tisch, an dem die Familie schließlich im Partyzelt wieder zueinanderfindet, wo sich auch die unterschiedlichen Erinnerungen an den Verstorbenen zu einem Bild zusammenzufügen. „Vielleicht wollte er uns nur zu verstehen geben, dass wir ausziehen sollten“, heißt es am Ende. „Wirkliche Nähe war nicht so meins“, singt Clueso in dem Song, den Opa so gerne gehört hat, was außer seiner Enkelin wiederum niemand wusste. Man hätte früher darauf hören können. Aber das ist dann eben die Ironie des Lebens, alles kommt zu seiner Zeit.
Corinna Götz