Schillerndes Science-Fiction-Spektakel über eine junge Frau, die sich in einem vom Krieg zwischen Menschen und Robotern gezeichneten Amerika auf die Suche nach ihrem lange totgeglaubten Bruder macht.
FAST FACTS:
• Dem Vernehmen nach die mit mehr als 300 Mio. Dollar teuerste Filmproduktion für Netflix
• Zweite Filmgroßproduktion der Russo-Brüder für Netflix nach „The Gray Man“
• Topbesetzung mit Netflix-Superstar Millie Bobby Brown und Chris Pratt
• Basierend auf dem Science-Fiction-Erzählkunstbuch von Simon Stålenhag
CREDITS:
Land / Jahr: USA 2025; Laufzeit: 128 Minuten; Regie: Anthony & Joe Russo; Drehbuch: Christopher Marcus & Stephen McFeely; Besetzung: Millie Bobby Brown, Chris Pratt, Stanley Tucci, Holly Hunter; Plattform: Netflix; Start: 14. März 2025
REVIEW:
300 Millionen Dollar plus Portokosten soll man sich bei Netflix gegönnt haben, um „The Electric State“ zum teuersten Filmprojekt des Dienstes zu machen, die zweite Zusammenarbeit mit den Russo-Brüdern, die davor schon mit „The Gray Man“ aus dem Jahr 2022 mit 200 Mio. Dollar Budget den seinerzeit kostspieligsten Netflix-Film gemacht hatten. Beide Filme haben dieselben Tugenden. Beiden Filmen, jeweils entstanden für die Produktionsfirma der Brüder, AGBO, sieht man das Budget an: Sie sind randvoll mit EREIGNIS und SPEKTAKEL, haben Tempo und Drive. Es gibt viel zum Hinschauen. Gelernt ist gelernt: Die Russos haben mit den beiden letzten „Avengers“-Filmen „Infinity War“ und „Endgame“ zwei der erfolgreichsten Kinoproduktionen aller Zeiten gemacht, zusammen mit ihrem Einstieg ins MCU, „The First Avenger: Civil War“, weltweit allein im Kino sechs Millarden Dollar umgesetzt. Was will man da diskutieren? Die wissen, wie’s geht.
Beide Filme, „The Electric State“ wie „The Gray Man“, haben aber auch vergleichbare Defizite, der neuen Arbeit sieht man es vielleicht mehr noch an, weil die Schauspieler:innen zwar ebenso große Namen haben, an der Spitze Netflix‘ own private Superstar Millie Bobby Brown und Chris Pratt, das Gesicht von Franchises wie „Guardian of the Galaxy“ und „Jurassic World“, sie aber auch deutlich schwächer sind als Ryan Gosling und Chris Evans, nicht nur in Popcorn-Ware erprobte Charaktermimen. Sie sind auch gar nicht einmal das Problem, sondern können das Problem nur weniger gut kaschieren, das „The Electric State“ zwar gefällig und leidlich kurzweilig sein lässt, die Mindestanforderung für einen Film dieser Budgetklasse, aber auch zu einer leere Fingerübung machen. Da ist ein Loch, wo ein echtes Herz schlagen sollte, ein ganzer Film wie der Zinnmann, was durchaus Sinn macht, weil „Der Zauberer von Oz“ durchaus als Leitmotiv dieser Science-Fiction-Dystopie dient: If I only had a heart. Man hat weniger das Gefühl, da wolle jemand mit jeder Faser seines Körpers eine Geschichte erzählen, die ihm ein Anliegen ist, sondern als ginge es darum, sich durch eine Checkliste zu arbeiten und disparate Elemente zusammenschrauben, damit auch wirklich ein Blockbuster™ dabei rauskommt, die Imitation eines Eventfilms: Wer braucht KI, wenn wir selbst schon Filme machen, als wären sie durch Abstimmung eines Komitees entstanden?
Basierend auf den 2017 mit Hilfe von Crowdfunding als Erzählkunstbuch veröffentlichten Science-Fiction-Kunstwerken des schwedischen Konzeptkünstlers Simon Stålenhag, der auch die Vorlage für die Prime-Serie „Tales from the Loop“ lieferte, haben die Russos ihren ganz eigenen „Der Zauberer von Oz“ erschaffen, allerdings mit der dramaturgischen Dringlichkeit eines späteren „Transformers“-Films, angesiedelt vorwiegend in der amerikanischsten aller Landschaften, dem Monument Valley, wo die großen Western von John Ford entstanden sind: Millie Bobby Brown als Dorothy-Ersatz mit Chris Pratt sowie zwei Robotern als Weggefährten an ihrer Seite, die nicht der yellow brick road, sondern einer Abfolge von Wimmelbildern folgen, um ihren totgeglaubten Bruder zu finden. Er könnte der Schlüssel zum Geheimnis der ganzen Welt sein, die Stanley Tucci als ein Steve Jobs/Jeff Bezos/Elon Musk nachempfundener Wizard of Oz hinter seinem Vorhang so gestaltet hat, dass er sie jederzeit kontrollieren kann. Später grüßen dann zu gleichen Teilen „Ready Player One“ und „Pacific Rim“, wenn es zum Showdown geht nach Seattle, was den Filmnarren an „Zeuge einer Verschwörung“ denken lässt, vielleicht aber auch eine Verbeugung vor der Heimat des Grunge ist, wo sich Kurt Cobain im Jahr 1994, in dem die Handlung spielt, bekanntlich das Leben nahm, vermutlich aber ein Seitenhieb in Richtung Amazon ist, die ihren Sitz in Seattle haben: Ein Schelm, wer Böses denkt, dass der Bad Guy auf der ganzen Welt riesige Hubs hat aufstellen lassen, die aussehen wie gigantomanische Alexas.
Staunen darf man schon. Sollte man auch. Es IST erstaunlich, mit wie viel Aufwand und Detailverliebtheit eine ganz neue Parallelwelt auf die Beine gestellt wurde, in der Präsident Bill Clinton in vermeintlich echtem Nachrichtenbewegtbild zum Halali gegen die Aufstände der Maschinen bläst. Allein die Unzahl an verschiedenen Robotern, die man sich hat einfallen lassen, um das riesige Robotergefängnis im Südwesten der USA zu bevölkern, wo man sie hinter einer riesigen Mauer darben lässt, ist eine beachtliche Leistung: als hätte man noch ein bisschen tiefer in der Spielzeugkiste des kleinen Joey aus „Toy Story“ gekramt. Und leistet zugleich Sozialkritik im Handstreich an einer ganzen Reihe gesellschaftlicher und politischer Themen (Immigration, Rassismus, Opioidkrise) Vorschub. Das ist nicht subtil, aber eindeutig. Eine interessantere Geschichte hätte man sich gewünscht, ein bisschen mehr Mühewaltung bei der Figurenzeichnung, etwas mehr Tiefe und Engagement bei der Darstellung: Gäbe es einen Oscar für beste Oberfläche, „The Electric State“ wäre ein Kandidat. Es gibt viel zum Hinschauen. Nicht ganz so viel zum Mitfühlen.
Thomas Schultze