Lang ersehnte Fortsetzung des hochgelobten, Emmy-prämierten High-End-Mystery-Serienhits von Ben Stiller und Dan Erickson für Apple TV+
FAST FACTS:
• Subversiver, intelligenter Mix aus Psychothriller und Satire auf das moderne Büroleben, in dem die Gehirne von Angestellten eines undurchsichtigen Konzerns in Privat- und Arbeits-Ichs gespalten werden
• Zum erstklassigen Cast um Adam Scott, John Turturro und die Oscar-Gewinner Christopher Walken und Patricia Arquette stoßen u.a. Gwendoline Christie („Game of Thrones“), Merritt Wever („Unbelievable“, „Run“) und Alia Shawkat („Blink Twice“, „The Old Man“)
CREDITS:
O-Titel: Severance Season 2; Land/Jahr: USA 2024; Laufzeit: 10 Folgen à ca. 50 Minuten; Showrunner: Dan Erickson; Regie: Ben Stiller, Sam Donovan, Uta Briesewitz, Jessica Lee Gagné; Besetzung: Adam Scott, Britt Lower, Tramell Tillman, Zach Cherry, Patricia Arquette, John Turturro, Christopher Walken, Jen Tullock, Dichen Lachman, Alia Shawkat, Bob Balaban, Stefano Carannante, Sarah Bock, Gwendoline Christie, Karen Aldridge; Plattform: Apple TV+; Start: 17. Januar 2025
REVIEW:
Bin ich tot? Ist das die Hölle? Und worum zum Teufel geht es hier eigentlich? Seit „Lost“ hat keine andere Mystery-Serie Fans und Kritikern mehr Kopfzerbrechen bereitet als Apples außergewöhnliches und außerordentlich kostspieliges (das Budget pro Folge soll mittlerweile bei 20 Millionen Dollar liegen) Prestigeprojekt „Severance“. Drei Jahre nach dem nervenzerreißenden, vierfachen Cliffhanger des ersten Staffelfinales folgt nun endlich, verzögert durch Autoren- und Schauspielerstreiks, die Fortsetzung der Show, die so subversiv, surreal und verdreht ist, als sei sie dem Geist von George Orwell, Franz Kafka, Charlie Kaufman und Michel Gondry gleichzeitig entsprungen, als verblüffende Mischung aus Slow-Burn-Psychothriller und Satire, „1984“, „Die Truman Show“, „Being John Malkovich“, „Vergiss mein nicht!“, „Tatis herrliche Zeiten“, „The Handmaid’s Tale“ und „Dilbert“-Comics, mit der der Newcomer-Autor Dan Ericksonseinen Frust über einen früheren, öden Office-Job verarbeitete und damit erschreckend genau den Zeitgeist (nach der Corona-Pandemie) traf. Vordergründig handelt die Geschichte von dem Gefühl der Verlorenheit, Entfremdung und Kälte, das den modernen Büroalltag bestimmt, von einer radikalen Interpretation des Begriffs Work-Life-Balance, von einem undurchsichtigen Biotech-Konzern namens Lumon Industries, der sich – vordergründig – seit 1866 um das Wohlbefinden der Menschheit kümmert. Tatsächlich wird hinter den Betonmauern eine revolutionäre Technologie getestet, bei der das Bewusstsein mittels eines im Gehirn implantierten Computerchips geteilt wird. Das Erinnerungsvermögen wird an Räumlichkeiten gebunden, um die Arbeitsmoral und das Glücksempfinden zu steigern – und um heilige Firmengeheimnisse zu schützen.
Der Protagonist Mark Scout, verkörpert von Adam Scott, hat sich freiwillig zu diesem vermeintlich unumkehrbaren Schritt entschlossen, er hat sein Arbeits- und Privat-Ich chirurgisch voneinander trennen lassen, damit er wenigstens acht Stunden am Tag seinen Schmerz über den Unfalltod seiner Frau vergessen kann. Sobald er morgens den Aufzug nach unten betritt, wechselt sein Outie- in den Innie-Modus, die Gesichtszüge entspannen sich, die Mundwinkel heben sich an und verwandeln den eben noch traurigen Witwer in den unbelasteten, kindlich naiven und hochmotivierten Mark S., der in dem neonbeleuchteten Bürolabyrinth von herablassenden, sarkastischen, süffisant lächelnden Vorgesetzten 9 to 5 überwacht, manipuliert, mit Albernheiten wie „Waffelpartys“ und „Musiktanzerlebnissen“ belohnt und mit psychischer Folter bestraft wird. Zum Team der Abteilung „Macrodata Refinement“ gehören außerdem der leicht respektlose Dylan G. (Zach Cherry), Lumon-Veteran Irving B. (John Turturro) und Neuzugang Helly R. (Britt Lower). Keiner der Refiner weiß so genau, was er da tut, wenn er an einem monochromen Computerbildschirm Zahlen nach Emotionen sortiert, die diese beim Betrachten auslösen. Die Arbeit ist mysteriös und sehr wichtig, offenbar ganz im Sinne des kultisch verehrten Unternehmensgründers Kier Eagan, dessen massives Lenin-ähnliches Profil im Eingangsbereich thront.
Jedes stilistisch ausgefeilte Detail, das surreale Retrodesign, das minimalistische Farbkonzept, die vielsagenden Bildkompositionen, der Soundtrack zwischen Jazz und Motörhead, der hypnotische Score von Theodore Shapiro mit dieser unheimlichen, immer gleichen geklimperten Tonfolge hat einen ikonischen Charakter, der in der zweiten Staffel regelrecht perfektioniert, mit einer weiteren Hochglanzschicht versehen wird. Die Dialoge bestehen nach wie vor zu gefühlt 99 Prozent aus Subtext, jede Antwort auf eine Frage ist doppeldeutig, und/oder (selbst)ironisch („Severence-Humor – so clever und einfach!“). Das komplexe, tiefgründige, bitterernste und aberwitzige Drehbuch ist subversiv as hell, verwebt geschickt existenzielle, philosophische und moralische Themen und lässt nie einen Zweifel daran, dass es eigentlich um noch viel mehr geht. Der Verdacht, dass dunkle, politische, religiöse Mächte im Spiel sind, erhärtet sich in den ersten sechs von zehn neuen Folgen, die vor dem offiziellen Streamingstart von Lumon, pardon, Apple gezeigt wurden. Schon die überarbeitete, animierte Titelsequenz lässt erahnen, dass die Story düsterer, das Kopfzerbrechen zunehmen, die Verzweiflung größer werden wird. War Adam Scotts Figur bislang die einzige, deren Privatleben jenseits der künstlichen Bürowelt erforscht wurde, rücken nun auch die Hintergrundgeschichten seiner Kollegen in den Fokus. Es gibt mehr Szenen, in denen man die Chemie des unerwarteten Traumpaars John Turturro und Christopher Walkenförmlich knistern hört, und man darf sich über die Beförderung von Publikumsliebling Tramell Tillman freuen, der als charmant bedrohlicher Seth Milchick mit seiner Shimmy-Dance-Performance in der Episode „Trotziger Jazz“ 2022 bereits Streaminggeschichte geschrieben hat.
Seitdem sind im dystopischen Universum von „Severance“ fünf Monate vergangen – seit die Refiner den Aufstand probten und die „Überstundenkontingenz“ aktivierten, um ihren Innies zu ermöglichen, in der „realen“ Welt die Wahrheit über die unmenschlichen Arbeitsbedingungen zu verbreiten. Die Konsequenzen stürzen sie nun noch tiefer ins Unglück, die Auswirkungen sind weitreichend, der Glaube an die Effektivität der Severance beginnt ebenso zu bröckeln wie die coole, loyale Fassade von Mr. Milchick. Patricia Arquettes bösartige Managerin Harmony Cobel, die aus noch unerfindlichen Gründen ein Doppelleben als Marks Nachbarin und Still-Beraterin seiner Schwester Devon (Jen Tullock) führt, verliert die Kontrolle, alles gerät aus der Balance. Im Zuge einer „Kindness Reform“ werden einige Umstrukturierungen vorgenommen, es gibt neue Mitarbeiter und Figuren, die prominent genug besetzt sind (Gwendoline Christie!), um irgendwann größere Rolle zu spielen, neue Schauplätze und Räumlichkeiten innerhalb des seelenlosen Konzerns und fantastische menschenleere Locations in der Außenwelt, die endlich auch den Innies offensteht, insbesondere im Rahmen einer ominösen „Outdoor-Retreat- und Teambuilding-Veranstaltung“ in der in jeder Hinsicht herausragenden dritten Episode, in der einige tragische und sehr bedeutende Dinge geschehen, die zu viele Spoilerwarnungen verlangen, um an dieser Stelle erwähnt zu werden.
Selbst, wenn die Refiner durch Schneelandschaften stapfen wie in einer Verfilmung von „Die Brüder Karamasow“ oder „Dr. Schiwago“, gelingt es Ben Stiller, der als Regisseur und treibende kreative Kraft nach wie vor den Ton vorgibt, die beklemmend klaustrophobische Atmosphäre zu bewahren, zugleich behält die Inszenierung immer die Figuren im Auge. De facto haben nunmehr alle Hauptdarsteller die Aufgabe, jeweils zwei verschiedene Charaktere zu spielen. Je mehr man über die Outies und ihre Angehörigen (Merritt Weaver!) erfährt, über die Gründe, die sie zu Lumon gebracht haben, desto mehr entwickeln sich die Innies zu erwachsenen, selbständigen Individuen, deren Unterbewusstsein ebenso von Schmerz, Verlust und Ängsten kontrolliert wird wie ihr privates Ich. Während die zwei separierten Ebenen ineinandergreifen, die Whistleblower ihre Mission fortsetzen und nach Marks angeblich verstorbener Frau Gemma suchen, die vielleicht oder auch nicht als Innie in Person der Wellnessberaterin Ms. Casey (Dichen Lachman) noch am Leben ist, entfalten sich verrückte, grenzüberschreitende Dreier- bzw. Viererbeziehungen, in denen unter anderem Marks gespaltenes Ich zwischen zwei Frauen hin- und hergerissen ist.
Es stellt sich die große Frage, ob es möglicherweise bei allem nur darum geht, wie Liebe die Severance überwinden kann. Nichts lässt sich trennen, was zusammengehört, auch nicht die zweite Staffel von der ersten, ein Rewatch der vorangegangenen Folgen ist unbedingt empfehlenswert, sofern man nicht die vergangenen drei Jahre in Reddit-Fanforen verbracht hat und sich an jeden Handlungsstrang erinnern kann. Was die unvergleichliche Qualität von „Severance“ ausmacht, ist nicht zuletzt die unbestreitbare Tatsache, dass die Serie mit jeder Sichtung besser wird und bei jeder Wiederholung neue Details an die Oberfläche kommen. Jeder lose Faden wird irgendwann wieder aufgegriffen, weitergesponnen und reintegriert, alles ist von Anfang an ironischerweise miteinander verbunden – und früher oder später ergibt dann auch die Sache mit den Ziegen einen Sinn.
Corinna Götz