Raffinierter Thriller nach einer Vorlag von Sebastian Fitzek, in der sich eine Frau an eine Notruf-Hotline wendet, die von dem berüchtigten Kalender-Killer ins Visier genommen wird.
FAST FACTS:
• Nach „Die Therapie“ zweite Sebastian-Fitzek-Adaption von Ziegler Film für Prime, diesmal ein Spielfilm
• Topbesetzung mit Luise Heyer, Sabin Tambrea und Friedrich Mücke
• Regie von Genrespezilaist Adolfo J. Kolmerer, einschlägig bewandert durch „Sløborn“ und „Oderbruch“
CREDITS:
Land / Jahr: Deutschland 2025; Laufzeit: 97 Minuten; Produktion: Barbara Thielen, Susa Kusche, Tillman Geithe, Regina Ziegler, Verena Schilling, Philip Pratt; Regie: Adolfo J. Kolmerer; Drehbuch: Susanne Schneider; Besetzung: Luise Heyer, Sabin Tambrea, Friedrich Mücke, Rainer Bock, Andreas Döhler, Dennenesch Zoudé; Plattform: Prime Video; Start: 16. Januar 2025
PREVIEW:
In „Du lebst noch 105 Minuten“ von Anatole Litvak weiß Barbara Stanwyck, dass sie den sicheren Tod vor Augen hat, und sie weiß auch, wann es passieren wird. Ein High-Concept-Film aus einer Zeit, in der man den Ausdruck „High-Concept“ noch eine Handvoll Jahrzehnte nicht kannte. Mehr als 75 Jahre sind seither vergangen, aber die Prämisse fühlt sich unverändert frisch an, selbst Litvaks Film von 1949 kann man sich immer noch ansehen, ohne dass er besonders alt oder überholt wirken würde, die zutiefst existenzielle Grundidee trifft einen Nerv. So auch in „Sebastian Fitzeks Der Heimweg“, der kein bewusster Epigone von „Du lebst noch 105 Minuten“ sein mag, aber die gleiche Urangst anzapft: Unsere Zeit ist nicht nur begrenzt, man weiß sogar genau, wann die Uhr abläuft. Das ist der Kern. Und der Grund, warum diese Geschichte funktioniert, so konstruiert und absurd sie auch wirken mag. In Sebastian Fitzeks Erfolgsroman von 2020, ebenso wie in Adolfo J. Kolmerers kompetenter Verfilmung, die am 16. Januar als erstes hauseigenes deutsches Fiction-Highlight des Jahres bei Prime Video startet.
Nach „Sebastian Fitzeks Die Therapie“ ist es die zweite Verfilmung eines Thrillers des deutschen Bestsellerautors durch Ziegler Film, die für die Plattform entstand. „Die Therapie“ als sechsteilige Miniserie mit Stephan Kampwirth, Helena Zengel und Emma Bading, erdacht und geschrieben von Alexander M. Rümelin sowie inszeniert von Thor Freudenthal und Ivan Saínz-Pardó, vielleicht etwas arg ausgewalzt auf viereinhalb Stunden; „Der Heimweg“ nunmehr knackig, konzentriert und massiert als Spielfilm mit etwas mehr als 90 Minuten Laufzeit, geschrieben von „Bella Block“-Expertin Susanne Schneider, quasi ein Gegenentwurf und mehr auf einer Linie mit vormaligen Fitzek-Verfilmungen wie „Abgeschnitten“ von Christian Alvart mit Moritz Bleibtreu. Eine Frau weiß, dass der berüchtigte Kalender-Killer sie ins Visier genommen hat, dass sie die Wahl hat, ob sie an diesem einen Tag noch ihren Mann tötet oder durch die Hand des Mörders ums Leben kommt. That’s it. Ein Pitch wie von Jerry Bruckheimer apostrophiert, der auf eine Streichholzschachtel passt.
Bis man diese Frau erstmals sieht, unsere vermeintliche Hauptfigur, vergeht indes eine kleine Weile. Zuerst hört man nur ihre Stimme. Sie wählt einen Notruf für Frauen und wird durchgestellt zu Jules, den wir gerade schon in Aktion erlebt hatten: Von seiner Kommandozentrale am Wohnzimmertisch aus hat er per Headset einer jungen Frau aus einer brenzligen Situation geholfen, ein erfahrener Mann, umsichtig und immer mit ruhiger, besänftigender und doch kräftiger Stimme. Aber auch er wird an seine Grenzen geführt, als sich Klara bei ihm meldet und ihm von ihrem Problem erzählt, der Kalender-Killer habe sie vor die Wahl gestellt: „Er oder ich“, mit großen roten Lettern an eine Wand geschmiert, mit einem unverkennbaren Schnörkel am Ende der Zahl „2“.
Zumal die Lage nicht ganz eindeutig ist. Denn Klara ruft nicht zum ersten Mal an, wird in der Kartei von Jules’ Agentur als potenzielles Missbrauchsopfer geführt. So entspinnt sich ein Dialog zwischen den beiden Fremden. In Rückblenden erlebt man ihre bizarre Ehehölle mit Martin mit, ein Berliner Staatsekretär zwar, aber offenkundig pervers und sadistisch veranlagt, der seine Frau auf Fetischpartys, wie sie sich „Eyes Wide Shut“ nicht edler und eleganter vorstellen könnte, anderen Männern zum Auspeitschen feilbietet. Sagt sie. Jules wiederum fühlt einen Nerv getroffen, weil auch er eine sechsjährige Tochter zuhause hat, die er nach einer persönlichen Tragödie allein großziehen muss. Sagt er. So entspinnt sich ein verzwickter Pas de Deux zwischen den beiden, so furios zwischen den Perspektiven, Ereignissen und Zeitebenen switchend, dass man es als Zuschauer nicht immer ganz leicht hat, auf einer Höhe mit der Handlung zu sein, und sich zunehmend der Verdacht aufdrängt, da würden clever Nebelbomben gezündet, um von einer dann fast offensichtlichen Auflösung abzulenken: Thriller als Taschenspielertrick, als raffinierte Zaubershow, Aufschäumen mit hohem Unterhaltungswert.
Dass das funktionieren kann, braucht es die richtige Besetzung. Hier hat man sie gefunden. Luise Heyer ist immer ein Erlebnis, sieht man aber viel zu selten und jetzt endlich wieder in einer Hauptrolle, die sie frontal anpackt, als würde sie nicht in einem filmischen Pageturner vor der Kamera stehen, sondern eine Figur von Tschechow spielen: Ihre Klara könnte man leicht als Opfer spielen. Dass sie sich dem aber verweigert, ihren Gegenspielern, ob nun Ehemann oder Kalender-Killer, entschlossen, fast aufmüpfig die Stirn bietet, so sehr diese sie auch zu erniedrigen oder dominieren versuchen, macht „Der Heimweg“ in der Tat zu einem Erlebnis. Am anderen Ende der Telefonleitung ist Sabin Tambrea der nötige Ruhepol, unter dessen Oberfläche es indes brodelt, was er mit einem Miminum an Mimik umsetzt, quasi als Gegenpol zu dem von Friedrich Mücke mit sichtbarer Freude an der Umkehrung seiner üblichen Good-Guy-Leinwandpersona gespielten Frauenhasser und auch der effektvollen Inszenierung von Genrespezialist Kolmerer, der seinen Film so knallig und unheilvoll sein lässt, als würden unablässig Warnsirenen schrillen (Kamera ohne Stillstand: Kolmerer-Regular Christian Huck („Oderbruch“); Schnitt mit doppeltem Boden: Laura Wachauf („Eine Million Minuten“); sinnlich-elegantes Kostümbild, das Frauen und Männern steht: Anne-Gret Oehme („Die Therapie“, „Lieber Thomas“); Musik im Alarmzustand: Román Fleischer und Tim Schwerdter („Oderbruch“). Rainer Bock und Andreas Döhler sieht man immer gern und schauen obendrein zu nicht ganz unwichtigen Gastauftritten vorbei zur Rundumveredelung eines Angebots, das Thrillerfans gerne annehmen werden.
Thomas Schultze