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REVIEW SAN SEBASTIÁN: „Hard Truths“

Bittersüßes, streckenweise komisches Drama über eine Schwarze Frau in einer Vorstadt Londons, die der Welt und sich selbst den Krieg erklärt hat.

CREDITS:
Land / Jahr: Großbritannien, Spanien 2024; Laufzeit: 97 Minuten; Regie & Drehbuch: Mike Leigh; Besetzung: Marianne Jean-Baptiste, Michele Austin, David Webber, Tuwaine Barrett, Ani Nelson, Sophie Brown; Verleih: Studiocanal

REVIEW:
Kann es wirklich wahr sein, dass schon gute 28 Jahre vergangen sind, seitdem Mike Leigh und Marianne Jean-Baptiste zusammen in Cannes mit „Lügen & Geheimnisse“ angetreten waren und damit die Goldene Palme gewannen? Die Zeit fliegt, aber Flugzeuge stürzen ab. Jetzt haben sich die beiden wieder zusammengefunden, der 81-jährige Filmemacher und die nunmehr 57-jährige Schauspielerin, aber diesmal gibt es nur noch harte Wahrheiten, „Hard Truths“ eben. Es ist Leighs erste Regiearbeit seit seinem glücklosen Historienepos „Peterloo“ vor sechs Jahren und seine Rückkehr in Zeit und Ort, die ihm am besten liegen und die er zuletzt 2010 mit „Another Year“ besucht hatte – das England der Gegenwart. Es ist ein recht schmucklos anzusehender Film geworden, begleitet von melancholischen Geigen hart am Rand zur Selbstpersiflage, der auch ein Theaterstück sein könnte, wenn er nicht hin und wieder die Kulisse wechseln würde. Aber meine Herren, was für eine Darstellung von Marianne Jean-Baptiste: Ihre Pansy sieht man einmal und man vergisst sie nicht mehr. 

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Mike Leighs „Hard Truths“ mit Marianne Jean-Baptiste (Credit: Toronto International Film Festival)

Pansy führt auf den ersten Blick eine solide Mittelklasse-Existenz. Mit ihrem Mann Curtney, der als unabhängiger Möbelpacker arbeitet, und ihrem 22-jährigen Sohn Moses, der immer ein großes Baby geblieben ist, ein verstockter, einsilbiger, sensibler Einzelgänger, lebt sie in einer Londoner Vorstadt in einem kleinen Häuschen mit Garten, das immer pikobello sauber ist – eine Frage von Selbstrespekt für Pansy. Idyllisch ist indes nichts in ihrem Dasein. Pansy ist eine Frau, die sich im Krieg befindet. Mit der Welt und den Menschen um sich herum. Und mit sich selbst. Sie ist sozusagen der Gegenentwurf zu Sally Hawkins‘ Poppy in Mike Leighs „Happy-Go-Lucky“. „Unhappy-Go-Angry“ vielleicht? „Ihr kennt nicht mein Leiden, ihr kennt nicht meinen Schmerz“, klagt Pansy. Gepeinigt von einem endlosen Vorrat an irrationalem Zorn und einer nagenden Depression seit dem Tod ihrer Mutter vor fünf Jahren, gibt es nichts, vor dem ihre in Säure getunkte Zunge Halt machen würde. Ihre Familie hat sie so in die Enge getrieben und eingeschüchtert, dass in ihrem Haus Schweigen herrscht. Aufbegehren ist zwecklos, wie ihre Umwelt mit gnadenloser Härte zu spüren bekommt: Ihre Besuche beim Arzt und beim Zahnarzt sind Bestrafungen für die armen Mediziner, auch auf der Straße oder im Verkehr legt man sich besser nicht mit ihr an. Und wenn es niemand anderen gibt, den sie mit unverhohlenem Abscheu bestrafen kann, wendet sie ihren Hass nach innen: Natürlich kann auch ihr Körper nicht ihren unendlich hohen Standards entsprechen.

Pansys Tiraden sind endlos und erschöpfend, eine Naturgewalt, die einen in die Knie zwingt. Wenn man nicht gerade ungläubig lachen muss, wird man ausgelaugt von dieser Frau. Wie sie es nur mit sich selbst aushält, wenn man im Kino schon nach 20 Minuten nach Atem schnappt, bleibt eine unbeantwortete Frage. Tatsächlich wäre „Hard Truths“ kaum auszuhalten, wenn s nicht Pansys jüngere Schwester Chantelle gäbe, gespielt vonMichele Austin, die endlose Geduld und Zärtlichkeit aufbringt für die wütende, Gift und Galle spuckende Frau, mit der sie großgeworden ist: Tatsächlich gibt es Momente, da scheint Pansy der Wind aus den Segeln genommen, da scheint sie zur Einsicht und tatsächlich zur Ruhe zu kommen. In einer irren Szene bei einem Muttertagsmittagessen bei Chantelle und deren beiden vor Lebensfreude überschäumenden Schwestern scheint das Eis zu brechen. Man sieht, wie Pansy zu lachen beginnt, verhalten zuerst, dann immer lauter, schallend – bis das Lachen mit einem Schlag in Tränen mündet, Tränen, die nicht enden wollen. Denn grenzenloses Selbstmitleid ist auch eines ihrer Attribute. 

„Ich verstehe dich nicht, aber ich liebe dich trotzdem“, sagt Chantelle schließlich. Es fragt sich nur, ob ihre Schwester eine Lehre daraus ziehen kann. Tatsächlich endet „Hard Truths“ mit einer wahrhaft erschütternden Schwarzblende, die zum brutalsten zählt, was das Kinojahr zu bieten hat. Dass es trotzdem auch ein versöhnliches Ende ist, ist einem schönen Kniff des Filmemachers zu verdanken, der hier nicht verraten wird. Aber das Publikum zumindest mit der Gewissheit entlässt: Ganz hat Mike Leigh, dieser gnadenlose Chronist der Schattenseiten der Existenz einfacher Menschen, gefangen in ihren Lebensumständen, den Glauben an die Menschheit doch noch nicht verloren. Was Pansy davon halten, welche Standpauke sie ihm halten würde, wir wollen gar nicht daran denken. 

Thomas Schultze