SmHJHX

Am Freitag, den 25.10. werden wir ab 15.00 Uhr bis ca. 18 Uhr umfangreiche technische Wartungsarbeiten durchführen. Vielen Dank für Ihr Verständnis.

REVIEW MAX OPHÜLS PREIS: „Ungeduld des Herzens“

Stilsichere, tiefgründige Charakterstudie eines Bundeswehrsoldaten, der sich aus Mitleid mit der querschnittsgelähmten Tochter eines reichen Bauunternehmers einlässt.

UNGEDULD DES HERZENS Still  ©JanDavidGunther x

CREDITS:
Land/Jahr: Deutschland 2025; Laufzeit: 104 Minuten; Drehbuch: Lauro Cress, Florian Plumeyer; Regie: Lauro Cress; Besetzung: Giulio Brizzi, Ladina von Frisching, Livia Matthes, Thomas Loibl, Jan Fassbender, Ludwig Blochberger, Sira-Anna Faal; Kamera: Jan David Gunther; Montage: Ilya Gavrilenkov; Musik: Davide Luciani; Ton: Federica Ceruti, Juan Sebastian Erdmann, Jochen Jessuzek, Johannes Pich, Alexander Leser; Produzenten: Lorenzo Gandolfo, Lauro Cress

REVIEW:
In Stefan Zweigs psychologischem Roman von 1939 heiratet ein österreichischer Leutnant am Vorabend des Ersten Weltkriegs aus Mitleid die gelähmte Tochter eines ungarischen Magnaten, um damit sich und die gesamte Familie ins Unglück zu stürzen. Es ist eine raffiniert verstörende Parabel über falsch verstandenes Mitgefühl und den Konflikt zwischen eigenen Emotionen und gesellschaftlichen Erwartungen, tief eingebettet in den historischen Kontext und Zeitgeist. Lauro Cress überträgt in seinem bemerkenswerten Debütfilm all das ins Hier und Jetzt, erzählt nach einem klugen Drehbuch, das er gemeinsam mit Florian Plumeyer („Bis ans Ende der Nacht“) verfasst hat, die Geschichte neu und aus der Perspektive eines Bundeswehrsoldaten mit dem lächerlich bedeutungsvollen Namen Isaac Nasic. Isaac verkörpert von dem deutsch-italienischen Nachwuchsschauspieler Giulio Brizzi, macht eine Ausbildung zum Fackelträger auf einem Truppenübungsplatz bei Berlin, wo sich die Kameraden (und eine Kameradin) abends auf der Bowlingbahn treffen, um toxische Männlichkeit zu verbreiten, das Westerwaldlied zu grölen und sich gegenseitig aufzuziehen, zum Beispiel damit, dass Isaacs Ex kurz nach ihrer Trennung schon wieder mit einem anderen rummacht. Weil er das nicht auf sich sitzen lassen kann, spricht er die Nächstbeste an, die ihm über den Weg läuft, die attraktive und selbstbewusste Ilona (Livia Matthes). Er versucht, sich bei ihrer Schwester Edith (Ladina von Frisching) beliebt zu machen, die unbeteiligt und mürrisch an einem Tisch sitzt, fordert diese auf, mit seinen Freunden ein paar Bahnen zu werfen, will sie mit Humor im buchstäblichen Sinn vom Hocker reißen, übersieht jedoch in seinem Übermut den an der Seite geparkten Rollstuhl. Edith stürzt zu Boden, die Aufregung ist groß, der Abend endet in einem empörten Handgemenge, das unter dem Hashtag #fuckingsoldiers viral geht. Dabei war alles nur eine Ungeschicklichkeit, eine unverschuldete Tölpelei, wie es bei Zweig steht – oder, mit Isaacs Worten: „Woher hätte ich das denn wissen sollen?“

UNGEDULD DES HERZENS Still  ©JanDavidGunther x
„Ungeduld des Herzens“ (Credit: ©Jan David Gunther)

Es ist eine geradezu schmerzhaft peinliche, brutale Anfangssequenz, ein zehnminütiges Wechselbad der Gefühle im leicht artifiziellen Diskokugel-Licht der Bowlingbahn, wo erst Reggaeton, dann ein französischer Chanson im Hintergrund läuft, bis die Stimmung eher in Thrash Metal kippt und sich mit Motorengeknatter mischt, als Isaac tags drauf noch immer im Boden versinken will, sich am Telefon vor seiner italienischen Mutter rechtfertigen muss und schließlich zornig auf seiner Suzuki davon brettert. Dabei sieht er von den Bikerstiefeln bis zum Muskelshirt und den schablonenhaften Tätowierungen so aus, „als wolle er ein bisschen wie Ryan Gosling sein“, wie Edith feststellt, bei der er sich für seinen Fauxpas entschuldigen möchte. Wie sich herausstellt, ist Edith zum einen die Tochter eines vermögenden Bauunternehmers (Thomas Loibl), zum anderen teilt sie Isaacs Leidenschaft für Motocross. Seit einem Unfall querschnittsgelähmt, die Mutter vor einiger Zeit an Krebs gestorben, wird sie in der Familienvilla tagein, tagaus von Ilona umsorgt und begutachtet, wenn diese nicht „in einem Call ist“ (sie ist Unternehmensberaterin). Edith, präzise und einfühlsam gespielt von Ladina von Frisching, ist entwaffnend direkt, zu Recht misstrauisch, eine trotzige Kämpferin, die sich mit ihrer Situation nicht abfinden will, sich ihrer Verletzlichkeit schämt. Auch das hat sie mit Isaac gemeinsam, der krampfhaft versucht, seine Schwächen zu verbergen, im Wachbataillon nur sinnlosen „protokollarischen Ehrendienst auf Staatsempfängen“ leistet, dem es aber im Gegensatz zu Edith an Disziplin fehlt, an Integrität, Verantwortungsgefühl. Er ist eine Enttäuschung für seine Mutter, verleugnet seinen Vater, wird von seinem Feldwebel (Ludwig Blochberger) ständig erniedrigt.

UNGEDULD DES HERZENS Still  ©JanDavidGunther x
„Ungeduld des Herzens“ (Credit: Jan David Gunther)

Auf eine charmant rührende Weise ist Isaac naiv, unsicher und impulsiv, die Sehnsucht nach Anerkennung und Bestätigung oder wenigstens einem Vorbild steht ihm ins markant weiche Gesicht geschrieben. Zu seiner eigenen Überraschung steht er selbst plötzlich vor Edith und ihrer Familie im Rampenlicht und fühlt sich zu aufopfernder Hilfsbereitschaft motiviert. Er trägt Edith in einer Szene auf seinen muskulösen Armen ins Wasser wie Matthias Schoenaerts Marion Cotillard in Jacques Audiards „Der Geschmack von Rost und Knochen“, in einer anderen haut er wie Romain Duris in „Der wilde Schlag meines Herzens“ bravourös in die Klaviertasten. Er flirtet ebenso mit den Schwestern wie mit ihrem Vater. „Du hast eine besondere Wirkung auf Menschen“, sagt der zu ihm, und schon verfällt die geschundene Seele der subtilen Lust des Mitleidens. Er genießt es, sich um Edith zu kümmern, Dankbarkeit zu erleben, und dass er gleichzeitig mit Ilona vögelt, weil sie ihn eigentlich süß findet, lässt ihn beim Schwanzvergleich mit den Kameraden unter der Dusche in der Kaserne gut dastehen. Er ringt mit seiner Sexualität, verschweigt die Wahrheit, lügt aus Feigheit, möchte so sehr dem oberflächlichen Bild entsprechen, das sich andere von ihm machen, dass er sich bis zur Selbstverleugnung Gefühle einredet, die er gar nicht verspürt. Das gipfelt in einer äußerst demütigenden und unbefriedigenden Sexszene mit Edith, die er eben noch vor seinem Kumpel Holzer (Jan Fassbender) und dessen Frau Moni (Sira-Anna Faal aus dem Streamingserienhit „Pauline“) als eine Art „kleine Schwester“ bezeichnet hat.

Man möchte selbst vor Scham erröten, alles fühlt sich falsch an, hochgradig verkehrt und unangenehm. Das Drehbuch spielt mit Sehgewohnheiten, der Erwartungshaltung des Publikums, Voreingenommenheiten gegenüber den Figuren, die bis in die Nebenrollen überzeugend besetzt sind. Wo man Schnitte erwartet, bewegt sich die Kamera mit subversiver Langsamkeit, sieht herablassend auf den Protagonisten, drängt ihn mitunter aus dem Blickfeld. Dass sowohl Lauro Cress als auch Kameramann Jan David Gunther reichlich Erfahrung mit Commercials und Musikvideos gesammelt haben, lässt sich nicht übersehen, die bestechende Ästhetik, das künstliche Neonlicht passt hier perfekt ins Bild, nach dem sich Isaac verzehrt. Die Poesie der Inszenierung und die Ironie der Dialoge erinnern subtil an die literarische Vorlage, was zwischen den Zeilen steht, verrät manchmal eine Stimme im Radio oder ein Youtube-Clip auf dem Laptop, auf dem sich Isaac hinter verschlossenen Milchglastüren heimlich Castingshows ansieht. Die wachsende Anspannung wird von einem schräg-düsteren, unter die Haut kriechenden elektronischen Sounddesign untermalt, als hätte tatsächlich Derek Cianfrances Ryan-Gosling-Thriller „The Place Beyond the Pines“ Pate gestanden, der ebenfalls wie ein Biker-Film beginnt und sich zu einem Schicksalsdrama über Männlichkeit, Schuld und Versagen entwickelt. So spitzt sich die Gefühlslage im letzten Drittel zu, nimmt dramatische Wendungen, als sich Edith in Isaac verliebt, während er seine fehlenden Empfindungen mit der Besessenheit kompensiert, sie heilen zu wollen, um sich vor ihrem Vater zu beweisen. Berauscht von Eitelkeit, völlig überfordert, blind vor Scham für ihre wahren Bedürfnisse, drängt er Edith zu einer Stammzellentherapie in Polen, riskiert ihr Leben – und damit seine eigene Hoffnung auf Selbstachtung, seine Kameradschaft, seine Ausbildung. Zum Schluss hält er das alles sogar für Liebe, aber da ist es längst zu spät, und man sieht dem tragischen Helden mit einer Mischung aus großem Bedauern und tief empfundenem Mitgefühl beim Scheitern zu.

Corinna Götz