Eindringliches Drama über einen syrisch-palästinensischen Jugendlichen, der in einem griechischen Geflüchtetenlager an seine Grenzen geführt wird.
FAST FACTS:
• Weltpremiere auf dem 41. Filmfest München 2024 und Karlovy Vary (besondere Erwähnung)
• Beste Regie Thessaloniki Film Festival
• Entwickelt in Workshops mit Refugees, gedreht mit echten Asylsuchenden
• Eine Produktion von Arden Film in Koproduktion mit The Cup Of Tea, Executive Producer White Flux Productions und dem ZDF/Das kleine Fernsehspiel
• Gefördert von HessenFilm, Medienboard Berlin Brandenburg, BKM, FFA, DFFF und CNC
CREDITS:
Land / Jahr: Deutschland, Frankreich 2024; Laufzeit: 99 Minuten; Regie: Noaz Deshe; Drehbuch: Noaz Deshe, Babak Jalali; Besetzung: Abdulrahman Diab, Osama Hafiry, Jalal Albaroudi, Hazem Saleh, Moutaz Alshaltouh; Verleih: Port-au-Prince; Start: 17. April 2025
REVIEW:
Wenn die Realität zu unerträglich wird, kann man sich in Traumwelten flüchten, die die Existenz vereinfachen. In seinem zweiten Film nach „White Shadow“, der 2103 den Lion of the Future Award bei den Filmfestspielen von Venedig hatte gewinnen können und den in Rumänien gebürtigen Filmemacher als vielversprechendes Talent in Stellung brachte, geht Noaz Deshe im Grunde den umgekehrten Weg: Er wählt die Verfremdung, lässt seine Figuren eintauchen in eine zunehmende verzerrte, surreale Welt, um die Realität in einem berüchtigten Geflüchtetenlager in Griechenland noch eindringlicher zu gestalten, noch greifbarer erlebbar zu machen. Der Traum als Realitätsverstärker sozusagen, der Albtraum als Abbild der Erfahrungswelten junger Refugees, die in einer Spirale endloser Monotonie und zunehmender Entmenschlichung gefangen sind, das Flüchtlingslager als menschgemachtes Limbo, in dem das Leben förmlich aufgehoben scheint, Warteschleife endlos. Wie in einem kosmischen Witz auf Kosten derer, die eh schon nichts mehr haben, hört man im Hintergrund Züge Richtung Balkan fahren, wie in einer ganz anderen Zone of Interest.
„Xoftex“ ist ein Kinoerlebnis, das einem nahegeht, gerade weil hinter diesem Zerrspiegel nichts ausgespart wird, was die Menschen durchmachen müssen, die Ungewissheit, das Warten, die unmenschliche Behandlung. Wahre Ereignisse sind die Bausteine für Deshes filmischem Entwurf, dessen Blick all das ist, was den Insassen von Softex, dem berüchtigtsten unter den Lagern in Griechenland, aufgebaut um eine ausgebrannte Toilettenpapierfabrik (daher der Name) und bereits 2016 angeprangert als menschenunwürdige Einrichtung in Artikeln im Spiegel oder der taz, verwehrt bleibt: empathisch, mitfühlend, umarmend. Fast fühlt man sich unangenehm berührt, weil der Film auch humorvoll ist, seine Figuren immer sympathisch, wenn sie sich mit Comedysketchen die Zeit vertreiben und davon träumen, in dem Lager einen Zombiefilm zu drehen. Weit hergeholt ist das nicht: Die Lebensrealität der palästinensisch-syrischen Brüder Nasser und Yassin ist die von Untoten.
Wenn da nicht der Traum von einem Leben in Schweden wäre (bloß nicht Bulgarien, lachen die Lagerinsassen, das wäre die Arschkarte in Europa), würden sie längst aufgeben in diesem kafkaesken Irrwitz aus Behördengängen und Vertröstungen. Der tägliche Trott hinterlässt dennoch seine Spuren, die Spannungen im Lage steigen, lassen „Xoftex“ schließlich absurde, mächtige Bilder finden, die die innere Wahrnehmung der Charaktere nach außen stülpen: Noaz Deshe bedient sich einer Art filmischem Cut-up-and-Fold-In, aber weniger wie Burroughs, mehr im Stil eines Remix, der die bekannten Motive wie in einer konstanten Provokation neu anordnet, die Vergangenheit die vergessen, die Gegenwart ein Horror, die Zukunft unerreichbar. Der Schatten ein Traum, das Licht Illusion, ein Film entstanden in Workshops und gedreht mit echten Asylsuchenden: So absurd die Bilder werden, die Realität aufgelöst wird, desto intensiver gestaltet sich „Xoftex“ als Erlebnis, desto konkreter ist sein Anliegen.
Thomas Schultze