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REVIEW KINO: „Wilma will mehr“


Nachdem sie in Folge der Maueröffnung ihren Job, ihre Beziehung und ihre Identität verloren hat, flieht eine Mittvierzigerin aus der Lausitz nach Wien, um sich neu zu erfinden.

CREDITS: 
Land/Jahr: Deutschland 2025; Laufzeit: 110 Minuten; Drehbuch: Maren-Kea Freese; Regie: Maren-Kea Freese; Besetzung: Fritzi Haberlandt, Thomas Gerber, Stephan Grossmann, Xenia Snagowski, Katrin Schwingel, Isabel Schosnig; Verleih: Neue Visionen; Start: 31. Juli 2025

REVIEW:
Das Bild der ostdeutschen Provinz auf der Leinwand ist getrübt, der Himmel farblos. Es sind die späten 1990er-Jahre, immerhin läuft ein putziges Alpaka durch die Landschaft, an anderer Stelle drehen sich bereits die Windräder – doch das ist nicht der Fortschritt, für den Wilma angetreten ist. Die Mittvierzigerin, verkörpert von Fritzi Haberlandt, hat ihr Leben im Lausitzer Braunkohlerevier verbracht, ist mit zwei politischen Ideologien aufgewachsen, ausgebildet als Elektrikerin, Schlosserin und Maschinistin und vieles andere, nebenbei hat sie einen Sohn großgezogen, der wohl gen Westen gezogen ist. Enttäuschung, Trotz, Verbitterung sprechen aus ihrem Gesicht, das Vertrauen ins System ist so erschüttert wie das Fundament des ehemaligen Vorzeigebetriebs, für den sie gearbeitet hat. Als sie ihren Job im Elektrofachhandel verliert und herausfindet, dass ihr Mann Alex (Thomas Gerber) sie mit ihrer Freundin Doris (Xenia Snagowski) betrügt, wagt sie bei einem Ausflug an den Badesee den Sprung ins kalte Wasser und begibt sich daraufhin auf eine Selbstfindungsodyssee in Wien. Sie übernachtet in der Gartenlaube ihres früheren Kameraden Martin (Stephan Grossmann) und lässt sich auf eine Affäre mit ihm ein – eine Zwischenlösung, wie alles seit der Wende. Sie jobbt als Regalauffüllerin in einem Baumarkt, wo ihr Fachwissen nicht erwünscht ist („Mach halt und red ned!“), schließlich kommen ihr auf dem Arbeitsamt auf skurrile Weise ihre Zeugnisse abhanden, sodass sie mit leeren Händen dasteht und auf dem Handwerkerstrich landet.

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„Wilma will mehr“ von Maren-Kea Freese (Credit: Neue Visionen)

Wilma trägt den Blaumann mit Stolz und eigenwillige 70er-Jahre-Looks und ist als Fachkraft für Instandhaltung überzeugt davon, dass sie alles reparieren kann. Mit ihrem heftigen Dialekt und selbstironischen Humor ist sie die Personifizierung Lausitzer Bodenständigkeit und Resilienz. Wenn sie jedoch die einstige Propaganda wie im Schlaf herunterbetet, klingt darin Bedauern und Vorwurf mit: „Da ist man mal für den Traum von Gleichheit und Kameradschaft angetreten, hat sich dann jahrelang mit den abwegigsten Umschulungen zum neuen Menschen vollstopfen lassen, und dann ist man ganz ohne Zertifikate gar nicht mehr zu gebrauchen – ein Backhendl ohne Inhalt. Und jetzt ist auch noch die Panade weg“, klagt sie einem Russen gegenüber, den sie am Busbahnhof trifft, der sie nicht versteht und ihr auch nicht sagen kann, wo es langgeht. Als sie in einer WG Anschluss findet, wird sie von ihrer neuen Mitbewohnerin, der Literatur-Dozentin Matilde (Meret Engelhardt) mit deren feministischen Theorien konfrontiert, verliebt sich in den Umweltaktivisten Anatol (Valentin Postlmayr), dem sie bei der Installation von Solaranlagen zur Hand geht, und lässt eine frühere Leidenschaft aufleben, indem sie als Assistentin eines Tanzlehrers asiatischen Touristen den Wiener Walzer beibringt (mit Zertifikat).

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Fritzi Haberlandt in „Wilma will mehr“ (Credit: Neue Visionen)

Mit gemächlichem Tempo und oft hartem Schnitt reiht der Film Wilmas flüchtige Begegnungen episodenhaft aneinander, die elliptische Erzählweise verzichtet auf einen Spannungsbogen und eine klare Zielsetzung, nimmt die Perspektive der Protagonistin ein, deren Wirklichkeitswahrnehmung hin und wieder ins Surreale abgleitet. Die Visionen, in denen Wilma die Köpfe ihrer Freunde in eine Glühbirnenleiste schraubt, mit allen an einem Strang zieht, um eine Zimmerpalme zum Umsturz zu bringen, oder ihre Zähne verliert, sind die wenigen Szenen, die einen Blick in ihr aufgewühltes Innere erlauben, den ihr resolutes Auftreten und ihre unergründliche Miene ansonsten verbieten. Die Nebenfiguren sind Stellvertreter unterschiedlicher Ideologien, in den manchmal etwas hölzernen Dialogen geht es stets um Zukunftsgestaltung und Vergangenheitsbewältigung, was in einem „Heimatabend“ gipfelt, an dem Wilma einen Diavortrag über die schöne Lausitz hält und das DDR-Lied „Sag mir, wo du stehst“ neu interpretiert. 

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Fritzi Haberlandt und Stephan Grossmann in „Wilma will mehr“ von Maren-Kea Freese (Credit: Neue Visionen)

Regisseurin, Autorin, Dokumentaristin und Dozentin Maren-Kea Freese nennt ihre Arbeit eine „Forschungsreise in eigener Sache“, wie es in den Presseunterlagen heißt. Die gebürtige Hannoveranerin, deren Vorbilder unübersehbar im Neuen Deutschen Film der 60er und 70er zu finden, sei schon lange von der Selbstverständlichkeit beeindruckt gewesen, mit der sich Frauen in der Industrie der DDR in technischen Berufen behaupteten, die „scheinbar ein anderes Frauenbild lebten“. „Wilma will mehr“ ist nach ihrem dffb-Abschlussfilm „Zoe“ von 1999 und „Was ich von ihr weiß“ von 2006 ein weiteres Porträt einer kompromisslosen, nach Freiheit suchenden, dabei ständig aneckenden Protagonistin und zugleich eine Studie der Verlusterfahrung – ein Film über Menschen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden und sich neu erfinden müssen. Die Regisseurin scheint mehr an Denkanstößen als an der Dramaturgie interessiert zu sein, daran, Wilmas Blick für neue Perspektiven zu öffnen und ihre einstigen Utopien wieder zu erwecken, ihrem Kampfgeist mit allen Mitteln auf die Sprünge zu helfen, indem sie ihr sogar ein Handbuch für gewaltfreien Aktionismus aus den 2010er-Jahren in die Hand drückt und sie ganz zum Schluss an Monika Marons regimekritischen Roman „Flugasche“ erinnert, der auf dem Nachttisch verstaubt. Die meiste Zeit aber wirkt die Mentalität dieser schwer nahbaren Titelheldin wie eine Mauer, die sich nicht so einfach einreißen lässt.

Corinna Götz