Großes Schauspielkino mit einer Paraderolle für Ian McKellen als berühmt-berüchtigter Theaterkritiker im London der 1930er-Jahre, der zu allem entschlossen ist, um seinen Job und Lebensstil zu sichern.
FAST FACTS:
• Anspruchsvolles britisches Period-Drama nach dem Roman „Curtain Call“ von Schriftsteller Anthony Quinn
• Raffinierte Variante von Agatha Christies Mörderkrimis
• Drehbuch aus der Feder des Oscar-nominierten Dramatikers, Autors und Regisseurs Patrick Marber („Hautnah“, „Tagebuch eines Skandals“), Regie führte Anand Tucker („Hilary and Jackie“, „Shopgirl“, Produzent von „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“)
• Weltpremiere beim Toronto International Film Festival 2023
CREDITS:
O-Titel: The Critic; Land/Jahr: UK 2023; Laufzeit: 101 Minuten; Drehbuch: Patrick Marber; Regie: Anand Tucker; Besetzung: Ian McKellen, Gemma Arterton, Mark Strong, Ben Barnes, Alfred Enoch, Romola Garai, Lesley Manville; Verleih: Universal Pictures; Start: 13. März 2025
REVIEW:
„Der Theaterkritiker wird gefürchtet und geschmäht, weil er das Urteil fällen muss“, rezitiert Ian McKellen voice over zu Beginn des ersten Akts, „er muss kalt und vollkommen allein sein.“ Genau das ist der von McKellen verkörperte Jimmy Erskine: Er ist im Jahr 1934 der berühmteste und herzloseste Theaterkritiker Londons. Selbstgerecht sonnt er sich im eigenen Ruhm als Edelfeder der konservativen Tageszeitung „The Daily Chronicle“. Er hat die Macht, Karrieren zu begründen und zu beenden. Manche nennen ihn ein Biest, andere ein Monster. Er hat weder Respekt vor den Lesern noch vor den Künstlern, die er ohne Skrupel in Grund und Boden schreibt, und in den meisten Fällen steht seine Meinung schon vor der Aufführung fest. Je bösartiger sein Text, umso größer der Beifall seiner Fans und die Wahrscheinlichkeit, selbst unsterblich zu werden. Aktuelles Objekt seiner Verabscheuung: die aufstrebende Schauspielerin Nina Land (Gemma Arterton), deren Leistung in „The White Devil“ von Erskine gnadenlos verrissen wird. Doch die Zeiten ändern sich, David Brooke (Mark Strong), neuer Besitzer des „Chronicle“, der nach dem Tod seines Vaters dessen Titel geerbt hat, findet wenig Gefallen am Stil der alten Garde, er ist ein Reformer, will das Blatt familiären Werten verschreiben, die Anbiederung an die British Union of Fascists beenden, einen moderaten Ton anschlagen. Erskine soll das Extravagante, das Unangenehme, das Extreme ablegen – „more beauty, less beast“. Damit sieht sich dieser umso mehr als aussterbende Art bedroht, zumal es ohnehin die Sittenwächter auf ihn abgesehen haben: Als heimlicher Homosexueller führt er ein ausschweifendes Leben mit seinem angeblichen Sekretär, dem viel jüngeren Schwarzen Tom Turner (Alfie Enoch). Als er wegen ungebührlichen Verhaltens eine Nacht in Polizeigewahrsam verbringt und Brooke davon erfährt, wird Erskine prompt mit einmonatiger Kündigungsfrist gefeuert.
Es dauert eine Weile, bis die Dinge an dieser Stelle ins Rollen kommen. Das Drehbuch von Patrick Marber, das lose auf dem Roman „Curtain Call“ des britischen Schriftstellers Anthony Quinn basiert, hat wie seine Hauptfigur einen langen Atem. Es nimmt sich Zeit, um dem Publikum die Beweggründe darzulegen, alles, was für Erskine auf dem Spiel steht und ihn dazu bringt, einen faustischen Pakt mit Nina Land einzugehen. Diese bettelt verzweifelt um seine Gunst und Gnade, wohl wissend, dass sie ohne ein mildes Kritikerurteil niemals Erfolg haben wird. Ermutigt von ihrer Mutter Annabel (die hier sträflich vernachlässigte Lesley Manville) konfrontiert sie Erskine mit ihrer Frustration. Zur beiderseitigen Überraschung – und der des Zuschauers – tröstet er sie, gibt zu, dass Kunst in ihr steckt, die sie nur auf eine besondere Weise hervorlocken müsse („nicht so vorhersehbar, nicht so billig“). Am folgenden Premierenabend („Was ihr wollt“) bemerkt er, dass Brooke, der wie üblich in der ersten Reihe sitzt, von Ninas Darbietung zu Tränen gerührt ist. Schon sieht er seine große Chance gekommen, sich zu rächen und seine Stellung zurückzuerobern. Er schreibt eine begeisterte Rezension, verschafft Nina den ersehnten Durchbruch und verlangt im Gegenzug einen kleinen Gefallen: Sie soll den verheirateten Familienvater David Brooke verführen.
Was als Satire beginnt, entwickelt sich zu einer Tragödie, in der sich im Shakespear‘schen Sinn eine (mörderische) Intrige an die andere reiht. Das Drehbuch spinnt ein kompliziertes Netz aus Handlungssträngen, ein wunderbar verwobenes Beziehungsgeflecht. Es rückt die Agatha-Christie-Murder-Mystery-Vibes der Vorlage in den Hintergrund und konzentriert sich auf die Charakterstudie eines Mannes, der um seine berufliche und private Existenz, seine Freiheit, seine Stimme, seine Bedeutung bangen muss. Tatsächlich sind seine Worte nicht immer nur zerstörerisch, durch seine Arbeit habe sie sich überhaupt erst in die Schauspielerei verliebt, schwärmt zum Beispiel Nina Land. Erskine fühlt sich unangreifbar, unantastbar, sogar den Polizisten und Faschisten überlegen – „he who lives in fear, dies of shame“, zitiert er sich selbst. Auf den ersten Blick das wandelnde Klischee eines Theaterkritikers, macht ihn die mindestens Tony- und Olivier-Award-würdige Performance von Ian McKellen trotz aller Verwerflichkeit zu einem faszinierenden Charakter: nicht gleich durchschaubar, aber man bringt ihm durchaus Sympathien entgegen, insbesondere seinem Kampf gegen den Konservatismus und gesellschaftliche Zwänge. Erskine spielt seine Rolle beharrlich bis zum letzten Vorhang, nutzt die Schwächen seiner Mitmenschen aus, wo immer sich die Gelegenheit bietet, verführt und manipuliert jeden auf die ein oder andere Art, um weiterhin im Rampenlicht zu stehen – und ertränkt sein schlechtes Gewissen in Whisky.
Anand Tucker hat das raffinierte Skript mit unbehaglicher Düsternis in Szene gesetzt, wobei die Atmosphäre moralischer Verkommenheit streckenweise mehr fesselt als der weitgedehnte Spannungsbogen. Die dramatischen Kameraeinstellungen von David Higgs („His Dark Materials“, „Churchill“, „RocknRolla“), die Nahaufnahmen aus einer irritierend schrägen Aufsicht, bestätigen den Eindruck, dass sich jede Figur oder auch die ganze Welt auf den Abgrund zubewegt, was musikalisch und ironisch unterstützt wird durch die wiederkehrende Melodie des 30er-Jahre-Evergreens „Midnight, the Stars and You“, bekannt aus Stanley Kubricks „Shining“. „Wir sind verflucht, wir fühlen uns zu schwachen Männern hingezogen“, lautet die Moral am Ende der Geschichte, die wie ein klassisches Theaterstück eine zeitlose Qualität besitzt, mit unübersehbaren und unüberhörbaren Parallelen zur Gegenwart. Als selbsternannter Richter führt uns der diabolisch lächelnde Protagonist die Gewissenlosigkeit der Menschheit vor Augen. Zwischen den perfekt artikulierten Zeilen stellen sich Fragen, die hier und heute tragischerweise relevanter sind denn je. Das ist unvorhersehbar, brillant und ohne Mitleid in Szene gesetzt und vermutlich ganz nach Jimmy Erskines Geschmack.
Corinna Götz