Dritter Film von Dag Johan Haugeruds Oslo-Trilogie, in dem zwei befreundete Schornsteinfeger mit ihrem Selbstverständnis von sich als Mann ringen müssen.
FAST FACTS:
• In den deutschen Kinos Abschluss von Dag Johan Haugeruds „Oslo“-Trilogie nach „Liebe“ (17. April) und „Träume“ (8. Mai)
• Weltpremiere auf der 74. Berlinale im Panorama
• Gewinner des Label Europa Cinemas, Gewinner des C.I.C.A.E. Awards, Gewinner des Preises der ökumenischen Jury
• Vier Amanda Awards – Norwegischer Filmpreis: beste Regie, bestes Drehbuch, bester Darsteller, beste Nebendarstellerin
CREDITS:
O-Titel: Sex; Land / Jahr: Norwegen 2024; Regie & Drehbuch: Dag Johan Haugerud; Besetzung: Thorbjørn Harr, Jan Gunnar Røise, Siri Forberg, Birgitte Larsen, Theo Dahl; Verleih: Alamode; Start: 22. Mai 2025
REVIEW:
Zugegebenermaßen fühlt es sich komisch an, über „Oslo-Stories: Sehnsucht“ als letzten Film der „Sex/Dreams/Love“-Trilogie von Dag Johan Haugerud zu schreiben (lesen Sie meine SPOT-Besprechungen von „Oslo-Stories: Liebe“ HIER und von „Oslo-Stories: Träume“ HIER). Er war der erste der Filme, der gezeigt (und von mir gesehen) wurde, auf der Berlinale 2024 im Panorama – aber damals gab es uns als Branchendienst noch gar nicht. Also ist jetzt auch kein schlechter Zeitpunkt, über den Film zu schreiben, der nun als letzter der drei in die deutschen Kinos kommt, aber von seinem Schöpfer präferiert wird als erster Titel der Trilogie, den man zeigen und als Zuschauer:in sehen sollte (auch wenn Haugerud einräumt, dass es insgesamt keine Rolle spielt, welchen Film man wann sieht, solange man ihn sieht 😊 – die Figuren und Schauspieler differieren jeweils (mit einer Ausnahme, die sich durch alle drei „Oslo-Stories“ zieht, weshalb sich „Liebe“ auch unbedingt als letzter Titel aufdrängt, wo diese Figur erstmals nicht nur am Rand auftaucht, sondern auf nicht ganz untragische Weise stärker in den Mittelpunkt rückt), die Crew hinter der Kamera ist bei allen drei Filmen identisch.
Aber „Sehnsucht“ ist auch einfach so ein toller Auftakt, mit seinen eingehenden langen Kameraschwenks über die norwegische Hauptstadt, die Schauplatz der Dramen und Komödien und Tragödien sein wird, die sich Dag Johan Haugerud als eigentliches Bindeglied für seine ambitionierteste Filmarbeit ausgesucht hat. Über den Bildern schwelgt eine vermeintlich zeitgenössische Progrock-Musik, die tatsächlich von ansässigen Bands der Siebzigerjahre stammen könnte, von Høst oder Aunt Mary beispielsweise, aber doch eine neue Komposition von Filmkomponist Peder Kjellsby ist, im Hintergrund erkennt man, wenn man genau hinsieht, inmitten der vielen Krane in einem Neubaugebiet einen Schornsteinfeger, der mit einem Kollegen, seinem besten Freund, schon bald in den Fokus rücken wird.
Schnitt von der Totalen auf einen der beiden, die namenlos bleiben, den Abteilungsleiter, gespielt von Thorbjørn Harr, der mehr oder minder in die Kamera von einem bizarren Traum erzählt, den er wiederholt hat: Auf einer Party begegnet er David Bowie, der ihn aber nur als Frau wahrnimmt. Das hat Folgen in der Realität: In den Grundfesten seiner Männlichkeit erschüttert, trifft der Mann in seinem christlichen Chor keinen Ton mehr, obwohl er bisher immer eine Stütze war. Was hat das zu bedeuten? Nun offenbart die Kamera den Kollegen, gespielt von Jan Gunnar Røise, dem er sich im Büro anvertraut hat. Wie um das Vertrauen zu rechtfertigen, erzählt dieser wiederum, wie er, der seit Jahren glücklich verheiratet ist und zwei Kinder hat und absolut im Einklang mit seiner Heterosexualität lebt, von einer Eskapade im Dienst, bei der er sich in der Wohnung eines schwulen Mannes verführen ließ und Analverkehr hatte. Eine einmalige Angelegenheit, ganz okay, er war neugierig und fühlte sich geschmeichelt von den Avancen, wie er seinem Freund und sich selbst versichert, aber streng genommen sei es noch nicht einmal Fremdgehen gewesen, weil er das Ganze, wie er berichtet, vor seiner Frau nicht verheimlicht hat, weil es auch nichts mit seiner Ehe und seiner Liebe zu ihr zu tun habe. Abermals Schnitt.
Nach dieser großartigen Sequenz sieht „Sehnsucht“ den beiden Männern zu, wie ihnen ihr Leben um die Ohren fliegt. An dem einen nagt weiter dieser Traum, der ihn an allem zweifeln lässt, was er bislang immer als selbstverständlich empfunden hat. Der andere muss miterleben, dass seine Frau, gespielt von Siri Forberg, eben nicht mit dem erhofften Einverständnis reagiert, sondern zutiefst verletzt ist und ihrerseits an allem zweifelt, was sie bislang immer als selbstverständlich empfunden hat. Aus dieser Konstellation entwickelt Haugerud einen pointierten Diskurs, dringt immer weiter vor in seine Figuren, spielt Möglichkeiten und vermeintliche Lösungen für alle Beteiligten durch. Das ist ein Ansatz, der an Bergman erinnert, bei Haugerud aber nie zu der erwartbaren Eskalation führt. Wie erhitzt die Gemüter auch sein mögen, nie erhebt jemand seine Stimme, nie wird es laut. Immer reden die Figuren auf Augenhöhe vernünftig miteinander, argumentieren, räumen ein und offenbaren dabei ihre Gedanken und Sehnsüchte.
Auf diese Weise entwickelt sich ein Film – und das trifft ebenso auf „Liebe“ und „Träume“ zu, die denselben Themenkreis haben, aber auf völlig andere Weise durchexerzieren -, der anspielungsreich ist, immer wieder witzig und verspielt, der sich aber vor allem von der ersten Szene an aus der Komfortzone der Figuren bewegt und den Zuschauer:in damit auffordert, es ihnen gleichzutun: Warum ticken wir, wie wir ticken, warum sehen wir uns so, wie wir uns sehen, warum geben wir uns so, wie wir uns geben? Und warum ist es so schwierig, sich einfach mit der Wahrheit zu begegnen? Das Leben ist in den Filmen von Dag Johan Haugerud nicht festgelegt, nicht vorgezeichnet. Es ist eine Parade und ein Paradies unendlicher Möglichkeiten, eine Baustelle, auf der alte Gebäude abgerissen werden, neue Häuser entstehen, Krane und Bagger dazwischen, wie am Anfang des Films – oder später immer wieder, wenn der Regisseur seine Figuren vor Panoramafenstern mit dem Blick auf die Stadt anordnet.
Thomas Schultze