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REVIEW KINO: „Memoiren einer Schnecke“


Wundervoller, tragikomischer, erwachsener Knetanimationsfilm über die Außenseiterin und Schneckenliebhaberin Grace Pudel, die auf die traumatischen Ereignisse ihrer Kindheit zurückblickt.

CREDITS:
O-Titel: Memoir of a Snail; Land/Jahr: Australien 2024; Laufzeit: 94 Minuten; Drehbuch: Adam Elliot; Regie: Adam Elliot; Sprecher: Sarah Snook, Kodi Smit-McPhee, Jacki Weaver, Eric Bana, Nick Cave, Dominique Pinon, Magda Szubanski, Adam Elliot, Bernie Clifford; Verleih: Capelight Pictures; Start: 24. Juli 2025

REVIEW:
Als Kinder sind Grace Pudel und ihr Zwillingsbruder Gilbert unzertrennlich, ein Herz, zwei Außenseiter-Seelen. Wird sie von Mitschülern wegen ihrer angeborenen Lippenscharte gehänselt, steckt er bereitwillig Prügel ein, um seine Schwester zu verteidigen. Während sie die ganze Welt retten möchte, will er jedes Haustier aus der Käfighaltung befreien. Wenn sie sich vor Scham zurückzieht wie eine Schnecke in ihr Schneckenhaus, spielt er mit dem Feuer und träumt davon, sich einfach wegzuzaubern. Aber im da noch schmuddeligen Arbeiterklasse-Suburb von Melbourne, in dem die Kinder in den 1970ern nach dem Tod der Mutter mit ihrem Vater Percy leben, ist für Magie wenig Platz, für Traurigkeit dagegen umso mehr. Als Percy, einstiger Stop-Motion-Pionier und Straßenmusiker in Paris, der seit einem Verkehrsunfall querschnittsgelähmt und dem Whisky verfallen ist, seiner Schlafapnoe erliegt, werden die Geschwister vom Jugendamt in zwei unterschiedlichen Pflegefamilien auf verschiedenen Seiten des Kontinents untergebracht. 

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„Memoiren einer Schnecke“ von Adam Elliot (Credit: Capelight)

Grace wächst fortan in der Obhut eines kinderlosen, beigefarbenen Swinger-Paars in einem Vorort von Canberra zu „einem lebenden Stereotyp“ heran, verliert sich in ihrer immer größer werdenden Schneckensammlung, in Liebesromanen, Kleptomanie und einer sich stetig vermehrenden Meerschweinchenzucht. Gilbert, ein Ebenbild von James Dean, Holden Caulfield und Charlie Brown in einer Person, wird einer fanatisch-religiösen Obstfarmer-Familie in Perth ausgesetzt, versinkt in Wut und Depressionen. Viel später, nachdem sie jahrzehntelang Demütigungen und seelischen Missbrauch ertragen hat, wird Grace durch ihre Freundschaft mit der älteren, unbeugsamen Exzentrikerin Pinky klar, dass ihr selbst erschaffenes Gefängnis sie nur noch mehr von Gilbert getrennt hat. Doch das alles erkennt sie erst nach einigen dramatischen Ereignissen und dem Verlust ihrer einzigen Freundin, mit dem der Film beginnt – weil unser „god damn life“ oft erst rückblickend Sinn macht.

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„Memoiren einer Schnecke“ von Adam Elliot (Credit: Capelight)

So wie Schnecken „nie zweimal über ihre Spur gehen“, kann das Leben nur vorwärts gelebt werden, lautet die Botschaft, inspiriert von einem Søren-Kierkegaard-Zitat. „Memoiren einer Schnecke“ ist ein zutiefst philosophischer Knetanimationsfilm über den Umgang mit Verlust, Einsamkeit und Tod, Homophobie, Mobbing und mentaler Gesundheit, aber auch über Resilienz, Verbundenheit und Selbstakzeptanz. Der australische Animationskünstler Adam Elliot arbeitet darin wie schon in seinen vorangegangenen, preisgekrönten Werken teils basierend auf persönlichen Erfahrungen im handgefertigten, kunstvollen, entschlossen düsteren Rahmen eine überwältigende Menge existenzieller und existenzialistischer Fragen auf. Die nur allzu menschlichen Fehler und Schwächen, die Hässlichkeit und Sonderbarkeit seiner Figuren sind ein Plädoyer für Empathie, die Akzeptanz der eigenen Unvollkommenheiten und eine Anregung zur Selbstreflexion. 

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„Memoiren einer Schnecke“ von Adam Elliot (Credit: Capelight)

Seine leidenschaftliche, aufwändige Art des Filmemachens scheint für Adam Elliot selbst eine Art meditativer Prozess zu sein, ein Versuch, Sinn und Schönheit in den finstersten Ecken des Daseins zu finden. „Memoiren einer Schnecke“ wirkt, als würden Oz Perkins und Tim Burton gemeinsam „Die fabelhafte Welt der Amélie“ neu erzählen, mit der wohlmöglich vielschichtigsten Claymation-Technik, die man je gesehen hat, sogar Straßendreck und Müll (und Heroinbesteck) und der Schleim einer Schnecke werden in Knetkunst verwandelt. Die mal splitternackten Körper, gelegentlichen „Splatter-Effekte“ und „Sexszenen“ sind geradezu absurd detailgenau, durch ihre riesigen plastizierten Augen glaubt man glatt, in die Seelen der Charaktere blicken zu können. Unterstützt werden Figurenzeichnung und Spannungsbogen von dem durchgehenden, sensationellen Piano- und Orchester-Score der Komponistin Elena Kats-Chernin. Seinen optimistischen „Silver Linings Galore!“-Tonfall verdankt der Film der herzerwärmenden, samtweichen Stimme der Protagonistin, die in der Originalversion von („Succession“-Star) Sarah Snook gesprochen wird. Die außerordentliche Geschichte von Grace Pudel, die sie Voice-over erzählt, ist gleichzeitig tragisch und komisch, vermischt australischen Galgenhumor und märchenhafte Poesie, den Charme eines Kinderbuchs mit der Gothic-Melancholie eines Songs von Nick Cave (der auch einen Cameo-Auftritt als Sprecher hat) und vermittelt vor dem Hintergrund einer im Chaos versinkenden Welt einen unerschütterlichen Glauben daran, dass es nie zu spät ist, der Mensch zu werden, der man sein möchte. Ein deprimierend schönes und modernes Meisterwerk, das auf unerwartete Weise Angst und Hoffnung macht.

Corinna Götz