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REVIEW KINO: „Like a Complete Unknown”

Herausragende Musikerbiographie mit Timothée Chalamet als junger Bob Dylan auf dem Weg, Musikgeschichte zu schreiben und der Bob Dylan zu werden, als den die Welt ihn kennt.

CREDITS:
O-Titel: A Complete Unknown; Land / Jahr: USA 2024; Laufzeit: 141 Minuten; Regie: James Mangold; Drehbuch: James Mangold, Jay Cocks; Besetzung: Timothée Chalamet, Elle Fanning, Monica Barbaro, Edward Norton, Boyd Holbrook, Scoot McNairy; Verleih: Disney; Start: 27. Februar 2025

REVIEW: 
Um außerhalb des Gesetzes zu leben, müsse man ehrlich sein, singt Bob Dylan in „Absolutely Sweet Marie“, dritter Song auf der dritten Seite seines epochalen Doppelalbums „Blonde on Blonde“ aus dem Jahr 1966. Um außerhalb des Studiosystems arbeiten zu können, muss man ehrliche Filme machen. „Like a Complete Unknown“ ist James Mangolds erste unabhängige Produktion seit „Kate & Leopold“ vor 24 Jahren, entstanden damals für Miramax. Und er hat einen ehrlichen Film gemacht, für Searchlight, nachdem er über Jahre mehr oder weniger Hausregisseur beim Mutterschiff (einst Fox, jetzt 20th Century) gewesen war und zuletzt für Lucasfilm den nur mezzo-mezzo gutgelittenen fünften „Indiana Jones“ realisiert hatte. Nach „Walk the Line“ nimmt sich der beste Freund, den erwachsenes Hollywoodkino mit Format und klassischem Zuschnitt in bitteren Zeiten für diese einstige Paradedisziplin der Studios noch besitzt, einer weiteren Ikone der amerikanischen Popkultur an, monolithischer noch als Johnny Cash, Gewinner eines Oscars sowie des Nobelpreises für Literatur, Thema unzähliger Bücher, Abhandlungen und Doktorarbeiten, Objekt zahlloser Begierden und wiederholt Subjekt genialer Dokumentarfilme seit „Don’t Look Back“ von D.A. Pennebaker von 1967 und auch schon einmal Hauptfigur eines nicht minder genialen Spielfilms, „I’m Not There“ von Todd Haynes aus dem Jahr 2007, der dem quecksilbrigen Wesen des unberührbaren Bob Dylan gerecht zu werden versucht, indem er ihn von sieben verschiedenen Schauspielern spielen lässt (am besten: Cate Blanchett). 

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Timothée Chalamet in „A Complete Unknown“ (Credit: Macall Polay / Searchlight Pictures)

Und jetzt James Mangold mit einem Film, der sorgfältiger und überzeugender nicht gemacht sein könnte, an der Oberfläche ganz klassisch, allerbestes, gediegenes Handwerk. Das muss aber auch so sein, ein festes Fundament, ein klarer Rahmen. Denn mittendrin, da brodelt es, da ist Druck auf dem Kessel, da drängt der Film in alle Richtungen, genau wie der junge Bob Dylan, um den es hier geht, der 1961 ankommt als Landei in New York, mit der Gitarre auf dem Rücken und einem Plan im Kopf, die Welt aus den Angeln zu heben. Ihm folgt „Like a Complete Unknown“ bis ins Jahr 1965, when Dylan went electric, als er auf dem bislang traditioneller Folkmusic vorbehaltenen Newport Folk Festival zum ersten Mal die Elektrogitarre einstöpselt und zum Entsetzen der Veranstalter und des Publikums offiziell die Tür zur moderne Welt öffnet. Es ist keine leichte Aufgabe, der sich die Filmemacher hier stellen. Dass ihnen dabei ein so beachtlicher und kommerziell verwertbarer Film gelungen ist, mit aktuell knapp 65 Millionen Dollar Umsatz allein in den USA ein überzeugender Kassenerfolg, ist der reizvollen Oberfläche geschuldet, diesem überzeugenden Eintauchen in eine vergangene Ära, die von den Besten im Business wie zum Greifen zum Leben erweckt wird, und der entscheidenden Idee, Timothée Chalamet in der Hauptrolle zu besetzen. 

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James Mangolds „Like a Complete Unknown“ mit Timothée Chalamet (Credit: Searchlight)

Ein besonderer Coup, dessen Brillanz nichts damit zu tun hat, ob die Performance gut ist oder nicht oder der angesagteste junge Star Hollywoods auch in den Augen der alles besserwissenden Dylanologen bestehen kann, sondern dass er Kraft seiner Erscheinung eine Entsprechung für das ist, was der Film in 140 Minuten erzählt: ein Außerirdischer ist gelandet im winterlichen New York, der so hell und grell erstrahlt, dass sich die Menschen um ihn drängen, um sich in seinem Orbit bewegen zu dürfen. „Planet Waves“ hieß ein Album von 1974. Dylan selbst ist dieser Planet. Und er hasst es, dass er diese Wellen schlägt. Er will einfach nur Musik machen, Lieder schreiben wie ein Besessener, schneller als alle anderen, und sie singen, in die Welt tragen: Wie sich ein Mensch anhand seiner Musik formt, davon erzählt „Like a Complete Unknown“ und ist dabei nicht immer ganz nett zu seiner Hauptfigur, die ein rechtes Arschloch sein kann und im realen Leben wohl auch war. Kein Wunder, dass Dylan selbst den Film so spitze findet: Der Mann hat 1970 einen ganzes Doppelalbum mit minderwertiger Musik veröffentlicht, um seinen Fans vor den Kopf zu stoßen.

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Timothée Chalamet in „A Complete Unknown“ (Credit: Macall Polay / Searchlight Pictures)

Er möge nicht in einer Welt leben, in der es „Visions of Johanna“ nicht gebe, sagte Richard Gere einmal im Zuge der Veröffentlichung von „I’m Not There“. Von einer Welt, in der es „Visions of Johanna“ NOCH nicht gibt, geschrieben legendär im Chelsea Hotel für das eingangs schon erwähnte Album „Blonde on Blonde“, erzählt „Like a Complete Unknown“, von dem Weg dahin, die Ballade eines dünnen Manns, der schneller läuft als alle anderen, der sich nicht einfangen lässt, angetrieben von einer Himmelsmacht, die er selbst nicht fassen kann, aber einen Song nach dem anderen raushaut, in einer Geschwindigkeit, mit einer Wucht und Kraft, die sich bestenfalls vergleichen lässt mit dem Schaffensdrang, den fast zeitgleich auf der anderen Seite des großen Teichs die Beatles an den Tag legen. Nicht einmal Dylan selbst war es in seiner Autobiographie „Chronicles Vol. 1“ gelungen, einen Einblick zu geben, wie er tickt, was ihn ticken lässt: ein ganzes Leben damit verbracht, immer nur ein völliger Unbekannter zu bleiben, falsche Fährten zu legen, Distanz zu wahren, eine flüchtige Präsenz, die keinen Aufschluss gibt, was sich hinter den schwarzen Gläsern seiner Sonnenbrille abspielt. James Mangold ist so klug, Dylan gar nicht erst erklären zu wollen, King Bob Approximately

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Timothée Chalamet in „A Complete Unknown“ (Credit: James Mangold / Searchlight Pictures)

Er will ihn nur zeigen und auf diese Weise will er die Zeit erklären, in der Dylan sich bewegt, die er prägt und formt wie kein anderer, wie sich die Welt verändert, weil da dieser Mann ist, der Musik macht wie kein anderer mit Texten wie kein anderer und nichts anderes will, der die Menschen um sich braucht, um neue Lieder schreiben zu können, sie dann aber auch wieder fallenlässt, weil es für ihn immer nur nach vorne geht. In einer frühen Szene, als Dylan sein Vorbild Woody Guthrie, gespielt von Scoot McNairy, in New Jersey im Krankenhaus besucht und ihm eine Eigenkomposition vorspielt, sitzt der von Edward Norton grandios gespielte Pete Seeger am Krankenbett und wirft Dylan einen kurzen Blick zu, der alles sagt: Du, scheint er resigniert und bewundernd zu sagen, bist die Zukunft, wir sind die Vergangenheit. Immer wieder wird er so angesehen, von Joan Baez, gespielt von Monica Barbaro, von seiner Geliebten Sylvie, gespielt von Elle Fanning: Keiner kann schritthalten. Selbst der Film kommt kaum hinterher, einen Song nach dem anderen anzustimmen. Will er etwa eine Best-of-Compilation sein, ein Reader’s Digest? Jedes Lied, das einem auf Anhieb einfällt, wird angespielt, manche in voller Länge. „Blowin in the Wind“, „Masters of War“, „Mr. Tambourine Man”, „A Hard Rain’s A-Gonna Fall“, „Subterranean Homesick Blues” und und und… Bis der Groschen fällt. Bis man’s kapiert. „Like a Complete Unknown“ erzählt seine Geschichte mit der Musik. James Mangold hat ein Musical gemacht. Ein Musical mit einigen der berühmtesten Lieder des 20. Jahrhunderts, jedes einzelne ein Drama für sich, eine Reise durch die Zeit, spürbar und begreifbar gemacht, als säße man selbst hinter Dylan auf seiner Triumph, unaufhaltsam nach vorne drängend, niemandem zu Rechenschaft verpflichtet, with no direction home. 

Thomas Schultze