Herausragendes Justizdrama von Clint Eastwood, in dem ein Geschworener im Lauf des Mordprozesses, dass nicht der Angeklagte, sondern er selbst das zu verhandelnde Verbrechen begangen hat.
FAST FACTS:
• Fesselndes Gerichtsdrama und (möglicherweise) filmisches Vermächtnis des 94-jährigen Clint Eastwood
• Einer der Top-Ten-Filme des letzten Jahres des National Board of Review
• Wiedervereinigung der Hauptdarsteller Nicholas Hoult und Toni Collette nach ihrem gemeinsamen Filmhit „About a Boy“ von 2002
• Weltpremiere als Abschlussfilm des AFI Fests in Los Angeles
• Ursprünglich als Streamingrelease geplant, in den USA nach durchweg positiven Kritiken dann doch in 50 ausgewählten Kinos gestartet
• Millionenerfolg in Frankreich und Italien, Nummer-Eins-Hit in Spanien, weltweite Einnahmen bislang bei 21 Millionen US-Dollar
CREDITS:
O-Titel: Juror #2; Land/Jahr: USA 2024; Laufzeit: 114 Minuten; Drehbuch: Jonathan Abrams; Regie: Clint Eastwood; Besetzung: Nicholas Hoult, Toni Collette, J. K. Simmons, Chris Messina, Gabriel Basso, Zoey Deutch, Cedric Yarbrough, Leslie Bibb, Kiefer Sutherland, Amy Aquino, Adrienne C. Moore; Verleih: Warner Bros.; Start: 16. Januar 2025
REVIEW:
In den vergangenen drei Jahrzehnten wurde Clint Eastwood bereits mit jeder Auszeichnung für sein Lebenswerk bedacht, die die Branche hergibt, und es ist nicht das erste Mal, dass sich ein Film als seine möglicherweise letzte Regiearbeit ankündigt. Nachdem sein herzbewegender Western „Cry Macho“ 2021 diese Erwartungen nicht erfüllte, stand der vierfache Oscar-Preisträger im sagenhaften Alter von 94 Jahren noch einmal hinter der Kamera, um seinen 41. Studiofilm zu drehen, der seinem Vermächtnis mehr gerecht wird als jeder andere, auf den am Ende doch noch ein nächster folgen sollte. „Juror #2“ ist ein Clint-essenzielles Drama, die konsequente Fortsetzung seiner Auseinandersetzung mit den Themen Schuld und Moral, Glaube und Menschlichkeit, den Widersprüchen und existenziellen Fragen, die ihn in seiner fast 70-jährigen Karriere als Schauspieler, Produzent und Regisseur immer beschäftigt haben, und mit denen er nun, vielleicht ein letztes Mal, ins Gericht geht. Die Geschichte eines jungen Geschworenen in einem Mordprozess, der während der Verhandlung erkennt, dass er selbst für den Tod des Opfers verantwortlich ist, stellt ihn vor die schwierige Entscheidung, die Wahrheit zu gestehen oder sich selbst und seine Familie zu schützen. Es ist ein Film, der sein moralisches Dilemma so nachvollziehbar macht, dass man sogar als Zuschauer in einen Gewissenskonflikt gerät, der auf einem klugen, psychologisch lückenlosen Drehbuch von First-Time-Screenwriter Jonathan Abrams basiert, das mit handwerklicher Perfektion und Zweckmäßigkeit und einem fabelhaften Ensemble ohne Umschweife in Szene gesetzt wurde. Jede Einstellung, jeder Schnitt (David Cox), jede Kamerabewegung (Yves Bélanger) steht im Dienst der Figurenzeichnung, Eastwoods entspannte, schnörkellose Handschrift, die bis heute von der alten Schule seines Mentors und Lehrers Don Siegel geprägt ist, schimmert in Großbuchstaben durch die Erzählung, die mehr denn je alles auf das WESENtliche reduziert.
In seiner bisher stärksten Rolle verkörpert Nicholas Hoult („Nosferatu – Der Untote“) mit schüchterner Zurückhaltung und Eastwood’schem Understatement den sympathischen Journalisten Justin Kemp, Autor eines Lifestyle-Magazins aus Savannah, ein Average Joe mit College-Abschluss, der nur durch seine Körpergröße herausragt, der als Vertreter des Volkes „herausgepickt“ wurde, um seine „Jury Duty“ zu erfüllen, obwohl er eigentlich seiner ebenso liebenswerten Frau Allison (Zoey Deutch) in den letzten Wochen ihrer Risiko-Schwangerschaft beistehen sollte. Der Film, der sich im ersten Moment wie ein in den Südstaaten spielendes Hallmark Movie anfühlt, nimmt sich Zeit, um Fakten und Tatsachen zu liefern, zu beweisen, dass Justin Kemp ein Mensch ist, dessen Herz am rechten Fleck sitzt, der „perfect guy“, für den ihn Allison hält, der stets weiß, was zu tun ist. Dieses Bild, sein Leben ändert sich von einer Sekunde auf die andere, so wie es Eastwoods Figuren schon oft ergangen ist, in „Richard Jewell“, „Million Dollar Baby“, „Mystic River“. In dem Prozess, bei dem Kemp in der ersten Reihe der Juroren, dem Angeklagten, dem stadtbekannten Drogendealer James Sythe (Gabriel Basso), direkt gegenübersitzt, wird diesem vorgeworfen, seine Freundin (Eastwoods Tochter Francesca Eastwood) erschlagen, die Leiche eiskalt am Straßengraben zurückgelassen zu haben. Während der Verteidiger Erik Resnick (Chris Messina) fest an die Unschuld und an das Justizsystem glaubt, möchte die scharfsinnige Staatsanwältin Faith Killebrew (Toni Collette) den karrierefördernden Fall schnell zu den Akten legen, es gibt Zeugenaussagen, die Sythe belasten – unter anderem ging dem Mord ein heftiger Streit in einer Bar voraus.
In einer Rückblende mit Rashomon-Effekt, die eben diese Sequenz im Laufe des Films immer wieder aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet, schwenkt die Kamera an einen Nebentisch in „Rowdy’s Hideaway“, an dem Justin Kemp zur selben Zeit ins Whiskeyglas starrt, mit sich und seiner Alkoholsucht ringend, wie man später erfährt, bevor er auf dem Heimweg im strömenden Regen mit seinem Auto ein Reh anfährt – wovon er zumindest bis dahin überzeugt war. Jetzt dämmert es ihm, dass er wohl kein Tier auf dem Gewissen hat, vielmehr sprechen Indizien dafür, dass er selbst auf der Anklagebank sitzen sollte. Dem ersten Impuls folgend, die Wahrheit zu gestehen, vertraut er sich seinem Sponsor und Anwalt bei den Anonymen Alkoholikern (Kiefer Sutherland) an, der ihm jedoch davon abrät, sich zu stellen – sofern er nicht bereit dafür ist, auch die Konsequenzen zu tragen. Von nun an muss Justin fortwährend dem strengen Blick Justitias und der Kamera ausweichen, was den Szenen im Gerichtssaal eine Intensität verleiht, gegen die jede Grisham-Verfilmung wie eine Episode von „Law & Order“ wirkt. Man sucht mit ihm nach jedem Schlupfwinkel, jedem Anhaltspunkt, der ihn freisprechen könnte, man hat sich selbst noch nie so schuldig für ein Verbrechen gefühlt, das man gar nicht begangen hat. Die Anspannung, die die Story und Inszenierung sogar ohne den Einsatz eines genretypisch und bedrohlich anschwellenden Scores erzeugen, schnürt einem zunehmend die Kehle zu. Was sich in der kammerspielartigen Atmosphäre des Jurorenzimmers abspielt, ist wie ein bitterironischer Fingerzeig auf Sidney Lumets Meisterwerk „Die zwölf Geschworenen“. Nicholas Hoult übernimmt die Rolle von Henry Ford, der alles daransetzt, um die anderen elf Personen im Raum, die weniger von der Wahrheitssuche als von den eigenen Prioritäten und Vorurteilen geleitet werden, aufgrund berechtigter Zweifel zu einem Freispruch zu bewegen.
Der Ton, den Eastwood gegenüber den Institutionen, der Regierung, den Medien, den „erbarmungslosesten Mächten der Welt“, wie es 2019 noch in „Richard Jewell“ hieß, und nun gegenüber der Justiz anschlägt, bleibt zutiefst skeptisch, findet aber auf der Suche nach Menschlichkeit in einem dysfunktionalen System eine fast versöhnliche Note. Die aus rein politischen Interessen agierende Staatsanwältin – eine Paraderolle für Toni Collette – beginnt schließlich daran zu zweifeln, dass die Strafverfolgung den richtigen Mann ins Visier genommen hat. Zeugen können sich irren, alle machen Fehler, entscheiden nach bestem Wissen und Gewissen, trotzdem gibt es keine Gerechtigkeit. Am Ende muss ein Mensch mit den Konsequenzen seines Handelns leben können, wer schuldig wird, muss für die begangene Schuld selbst Sühne leisten – das war schon immer die Haltung des Filmemachers, mit der man in diesem fesselnden und dabei verdammt unterhaltsamen Drama mit erbarmungsloser Direktheit konfrontiert wird, als wolle er in diesem Fall den Zuschauer mit seinem stechenden Blick aus zusammengekniffenen Augen herausfordern, mit diesem existenziellen „Was würdest du tun?“ geradezu durchbohren. Gefragt nach seinem filmischen Vermächtnis sagte Clint Eastwood vor einiger Zeit in einem seiner seltenen Interviews: „Die Antwort liegt bei ihnen, beim Publikum.“
Corinna Götz