Intensives Drama, das in vier Episoden und aus vier unterschiedlichen Perspektiven die Folgen eines Autounfalls beleuchtet, in den die Mitglieder einer jüdischen und einer arabischen Familie in Haifa indirekt verstrickt werden.
FAST FACTS:
• Preisgekrönter zweiter Spielfilm des palästinensischen Filmemachers Scandar Copti nach dem gemeinsam mit dem israelischen Regisseur Yaron Shani inszenierten Thriller „Ajami“ (Caméra d’Or – Special Mention bei den Filmfestspielen von Cannes 2009, nominiert für den Oscar als bester fremdsprachiger Film)
• Scandar Copti zeichnet als Drehbuchautor, Regisseur und für den Schnitt verantwortlich, die Bildgestaltung stammt von Kameramann Tim Kuhn („22 Bahnen“, „KRANK Berlin“)
• Der Cast ist ausschließlich mit Laiendarstellern besetzt
• Internationale Koproduktion mit deutscher Beteiligung von Red Balloon Film
• Weltpremiere bei den Filmfestspielen von Venedig 2024 in der Sektion „Orrizonti“, ausgezeichnet unter anderem mit dem Orizzonti Award für das beste Drehbuch
CREDITS:
O-Titel: Happy Holidays; Land/Jahr: Palästina, Deutschland, Frankreich, Italien, Katar 2024; Laufzeit: 123 Minuten; Drehbuch: Scandar Copti; Regie: Scandar Copti; Besetzung: Manar Shehab, Wafaa Aoun, Meirav Memoresky, Toufic Danial, Raed Burbara, Shani Dahari; Verleih: Immergutefilme; Start: 4. September 2025
REVIEW:
Vielleicht ist es beabsichtigt, dass man am Ende den Wunsch verspürt, den Film umgehend ein zweites Mal zu sehen, weil sich nicht alle Zusammenhänge auf den ersten Blick erschließen – die sich tatsächlich gar nicht erschließen wollen, egal, aus welcher Perspektive man sie betrachtet. Es sind die fehlenden Verbindungen, die Unvereinbarkeiten, die Unversöhnlichkeit, die die heftige, langanhalte Wirkung dieser Erzählung ausmachen, mit der sich Scandar Copti nach seinem stilistisch ähnlichen Erstlingswerk „Ajami“ aus dem Jahr 2009 (Co-Regie Yaron Shani) erneut mit der eigenen Lebensrealität als Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft auseinandersetzt. Schauplatz ist in diesem Fall der kulturelle Schmelztiegel Haifa, Brennpunkt der Geschichte und jüdisch-arabischer Ko-Existenz (ungeachtet der aktuellen Ereignisse – der Film entstand vor dem 7. Oktober 2023). Politische Spannungen, Angst, Unsicherheit und Misstrauen bestimmen den Alltag der Protagonisten, gleich zu Beginn prophezeit der arabische Arzt Walid (Raed Burbara): „Es gibt wohl niemanden, der nicht lügt.“ Als ihm sein Freund Rami (Toufic Danial) anvertraut, dass seine jüdische Freundin Shirley (Shani Dahari) schwanger ist und plötzlich ihre Meinung zur geplanten Abtreibung geändert hat, vermutet Walid, dass Shirley nur nach einer Ausrede sucht, um die Affäre zu beenden, die für Ramis Familie ohnehin inakzeptabel wäre. Aber es ist kompliziert – und komplexer, als es auf den ersten Blick erscheint.

Rami erhält merkwürdige Drohanrufe und wird von Unbekannten verprügelt. Er verliert das Vertrauen in seinen Vater Fouad (Imad Hourani), der ihm die finanzielle Notlage der gemeinsamen Firma verschwiegen hat. Seine Mutter Hanan (Wafaa Aoun) ignoriert stoisch die drohende Insolvenz bei der Planung der Hochzeit von Ramis Schwester Leila (Sophie Awaada), um den guten Ruf der Familie zu bewahren. Die Kosten für die Feierlichkeiten soll eine Entschädigung für den Autounfall der jüngsten Tochter Fifi (Manar Shehab) decken, die jedoch den dafür notwendigen ärztlichen Bericht vorenthält – angeblich aufgrund eines Bürokratiefehlers. Den soll nun Dr. Walid aus dem Weg schaffen, in dem Hanan außerdem einen potenziellen Heiratskandidaten für Fifi sieht. Unterdessen versucht die Krankenschwester Miri (Meirav Memoresky) neben den Sorgen um ihre demnächst wehrpflichtige Tochter Ori (Neomi Memorsky) die Beziehung von Rami und ihrer Schwester Shirley zu sabotieren. Jeder der vier Hauptfiguren – Rami, Hanan, Miri, Fifi – ist ein eigenes Kapitel gewidmet, nach dem „Rashomon-Prinzip“ werden die Ereignisse so aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet – ausgehend von Fifis Carcrash nach einer Purim-Party (dem jüdischen Faschingsfest), der zunächst keine größeren dramatischen Folgen hat, erst im Laufe des Films das fragile Familiengefüge zum Einsturz bringt.

Das raffinierte Drehbuch und die geschickte Dramaturgie vermeiden Wiederholungen oder vorhersehbare Überschneidungen. Sobald eine Episode einen Höhepunkt erreicht, ändert sich die Perspektive, ständig ergeben sich neue Ansichten und Einsichten und ein immer dichteres Netz aus Lügen und Intrigen. Alle sind Gefangene dieses Systems, das sie selbst aufrechterhalten, keiner kann sich von den gesellschaftlichen Zwängen befreien. Jeder versucht, das zu tun, was er für gut und richtig hält, und gerät damit in Konfliktsituationen, die die Spannungen zwischen den Geschlechtern, Generationen und Kulturen widerspiegeln. Dabei gilt das vorrangige Interesse des Filmemachers den Protagonistinnen, die die Denkmuster patriarchalischer Unterdrückung paradoxerweise so sehr verinnerlicht haben, dass sie diese durch ihre Erziehung und Erwartungshaltungen an die nächste Generation weitergeben – was Shirley brutal am eigenen Leib erfahren muss, Ori zu einer drastischen Maßnahme zwingt, um nicht als Drückebergerin dazustehen, und Fifi in einen schweren inneren Konflikt stürzt, als ihr Doppelleben aufzufliegen droht, das sie hinter dem Rücken ihrer Familie führt, deren Ansehen dadurch ebenso Schaden nimmt wie ihr eigenes Liebesglück.

„Happy Holidays“ erinnert nicht nur in dieser Beziehung an Hafsia Herzis „Die jüngste Tochter“: Auch hier besteht der Cast – allerdings ausschließlich – aus Laien, die dem Film seine fast dokumentarische Authentizität und außerordentliche, emotionale Wahrhaftigkeit schenken. Mit derselben Methodik, die er bereits bei seinem Spielfilmdebüt angewendet hat, besetzte Scandar Copti alle Rollen mit Darstellern, die aus dem beruflichen Umfeld ihrer Figuren stammen, entwickelte mit ihnen in Workshops und mehrjähriger Vorbereitungszeit die Biografien ihrer Charaktere. Bei den Dreharbeiten reagierten die Schauspieler ohne vorgegebenen Text spontan auf die jeweilige Situation. Der Kamerablick ruht mit etwas Abstand stets auf den – einzelnen – Gesichtern, die beharrliche Schuss-Gegenschuss-Montage lässt kein Nebeneinander zu, die wenigen, buchstäblich berührenden Momente sind kurze, innige und tröstliche Umarmungen der Geschwister, in denen der Film Wärme, Menschlichkeit und die leise Hoffnung findet, dass eine jüngere Generation eines Tages überwindet, was sie zu diesem Zeitpunkt trennt. Bis der Regisseur in der letzten Einstellung mit einem einzigen Kunstgriff in der ansonsten streng zurückhaltenden Inszenierung das gesamte System in seinen Grundfesten erschüttert.
Corinna Götz