Schöner Familienfilm über einen Jungen im autistischen Spektrum und seine beiden Geschwister, die bei vierwöchigen Ferien bei ihren Großeltern ein paar wichtige Lektionen fürs Leben lernen.
FAST FACTS:
• Toller Familienfilm, der sich einfühlsam und spannend der Erlebniswelt eines jungen mit autistischer Zwangsstörung nähert
• Zweiter Kinofilm von Sarah Winkenstette („Zu weit weg“)
• Verfilmung des erfolgreichen Kinderbuchs von Sebastian Grusnick und Thomas Möller, die auch das Drehbuch schrieben
• Produziert in Leitwolf Filmproduktion in Koproduktion mit Kinescope Film
• Kommt festivalerprobt: Gewinner beim Goldenen Spatz, Bester Film in Kristiansand, Einladungen zum Schlingel und zur Giffoni Official Selection
CREDITS:
Land / Jahr: Deutschland 2024; Laufzeit: 84 Minuten: Regie: Sarah Winkenstette; Drehbuch: Sebastian Grusnick, Thomas Möller; Besetzung: Theo Kretschmer, Anton Noltensmeier, Lilli Lacher, Eva Löbau, Michael Wittenborn, Hedi Kriegeskotte; Verleih: Farbfilm; Start: 8. Mai 2025
REVIEW:
Oft gibt es Kinofilme von Sarah Winkenstette nicht. Das ist bedauerlich. Weil die Filmemacherin doch schon in „Zu weit weg“ aus dem Jahr 2018 bewiesen hat, wie feinfühlig sie inszeniert, wie empathisch ihr Blick auf ihre Helden im Kinderalter ist, wie genau sie hinblickt gerade in die Gefühlswelten von Jungs in diesem Alter, bevor die Pubertät einsetzt, sie aber doch langsam beginnen, die Kindheit abzustreifen. Freuen wir uns also über „Grüße vom Mars“, der die besonderen Stärken der Regisseurin ausspielt, die in der Zeit zwischen ihren nunmehr beiden Kinofilmen viel fürs Fernsehen gearbeitet hat, an Serien wie „Großstadtrevier“ oder „Schloss Einstein“ oder den Filmen „Ein Sommer an der Moldau“ und „Rückkehr nach Rimini“. Thematisierte Winkenstettes Kinovorgänger die Freundschaft zwischen einem deutschen Jungen und einem syrischen Flüchtlingskind, rückt sie in der Verfilmung des gleichnamigen Romans der Drehbuchautoren Sebastian Grusnick und Thomas Möller, eine Produktion von Anette Unger und Sven Rudat von Leitwolf Filmproduktion (in Koproduktion mit Matthias Greving und Kinescope Film), die Sommerferien eines Zehnjährigen mit einer autistischen Spektrumstörung in den Mittelpunkt der Handlung: Die finden zwar nur bei den Großeltern irgendwo in Norddeutschland statt, aber für Tom, der davon träumt, Astronaut zu werden, könnte es auch eine Reise in eine fremde Galaxie sein.
„Grüße vom Mars“ betritt vertrautes Terrain – und doch ganz anders als die beiden anderen deutschen Filme aus jüngerer Zeit, in denen Jungen mit Autismus-Spektrum-Störung eine zentrale Rolle spielten: „Wochenendrebellen“ von Marc Rothemund war dezidiert ein Film über eine Vater-Sohn-Beziehung, „Zwischen uns“ von Max Fey rückte Liv Lisa Fries als Mutter eines Kindes mit Asperger Syndrom in den Mittelpunkt („The Accountant 2“ mit Ben Affleck als autistisch veranlagten Inselbegabten klammern wir einfach einmal freundlich aus). Hier geht es explizit und auf ganz empathische Weise um die Gefühls- und Erlebniswelt von Tom, dessen ganzes Leben auf den Kopf gestellt wird, als seine Mutter, gespielt von Eva Löbau, zu einem wichtigen Geschäftstermin nach China reisen muss und er mitsamt seiner älteren Geschwister Elmar (hinreißend: Anton Noltensmeier) und Nina (souverän: Lilli Lacher) zu den Großeltern, gespielt von Hedi Kriegeskotte und Michael Wittenborn, ins norddeutsche Flachland verfrachtet wird – vier Wochen lang!
Für den Jungen ist es eine Art Super-GAU: Mit seiner autistischen Zwangsstörung gelingt es ihm zuhause ganz gut, Kontrolle über sich und seine Welt zu haben, in einem vertrauten Umfeld, das er kennt und in dem er gut manövrieren kann, umgeben von Menschen, die ihn kennen und wissen, dass unerwartete Erfahrungen eine Überlastung für jemand sind, dem es schwerfällt, den Informationsfluss, der auf ihn einprasselt, zu filtern. Dass Tom sich überhaupt zu dieser – wie es ihm scheint – Weltreise mit ungewissen Parametern einlässt, ist seiner Mutter zu verdanken, die ihm erklärt, dass er den Aufenthalt bei Oma und Opa als eine Vorbereitung auf die Reise zum Mars sehen soll, von der er träumt: Tom weiß alles über das Weltall und Raumfahrt, verschwindet auch gern in einem Raumanzug, der in diesem visuell penibel austarierten Film natürlich einerseits Rückzugsgebiet, eine Art Schildkrötenpanzer, aber auch ein für ein Kinderpublikum erklärliches Sinnbild ist für seine Isolation – ohne Bowies „Ground control to Major Tom“ bemühen zu wollen (der offenkundig Pate für den Namen des Jungen war). Aus dieser Prämisse entwickelt „Grüße vom Mars“ die Geschichte eines Entdeckungsabenteuers, das immer geerdet, immer realistisch ist, aber eben mit feinen filmischen Kniffen (Kamera: Jakob Berger, Schnitt: Nicole Kortlüke) das unmittelbare Erleben aus der Sicht der Hauptfigur vermittelt. Der aber auch ein Film über Familie, Zusammenhalt und Solidarität ist, weil der Fokus zwar immer auf besagtem Tom liegt, Sarah Winkenstette und ihre Mitstreiter (zu den bereits Genannten sollten dringend noch Szenenbildnerin Susanna Haneder und Kostümbildnerin Petra Kilian genannt werden, die mit ihrer Arbeit für die stimmige Erdung sorgen) aber kluge Wege finden, immer auch die Geschichten der anderen Familienmitglieder zu erzählen.
Dass „Grüße vom Mars“ so gut funktioniert und schließlich eine verblüffende Emotionalität entwickelt, liegt natürlich zu großen Teilen an der umwerfend guten Darstellung von Theo Kretschmer als Tom, aber auch an der klugen Einbindung der anderen Figuren. Insbesondere Bruder Elmar ist ein Bringer. Wenn am Schluss des Films die Familie sich auf dem Sofa versammelt und im Fernsehen einen Beitrag darüber sieht, dass es ausgerechnet Tom gelungen war, dank seiner Inselbegabung auf dem Gebiet der Astrophysik die Flugbahn eines verschwunden geglaubten Kometen zu berechnen, dann muss man an ein ähnliches Schlussbild in Alexander Paynes „The Descendants – Familie und andere Angelegenheiten“ mit George Clooney denken. Und wie es dem Film gelingt, das Öffnen und Durchschreiten einer roten Tür überzeugend als emotionalen Höhepunkt zu inszenieren, hat weitere Pluspunkte verdient. We have liftoff.
Thomas Schultze