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REVIEW KINO: „Ein Glücksfall“

Hintergründige Tragikomödie über eine Zufallsbegegnung auf den Straßen von Paris, die in eine Affäre und später in einen Mord mündet.

CREDITS:
O-Titel: Coup de Chance; Land/Jahr: Frankreich, Großbritannien 2023; Laufzeit: 93 Minuten; Drehbuch & Regie: Woody Allen; Besetzung: Lou de Laâge, Valérie Lemercier, Melvil Poupaud, Niels Schneider, Guillaume de Tonquédec; Verleih: Weltkino; Start: 11. April 2024

REVIEW:
Der beste Film von Woody Allen seit Jahren! Aber seit wie viel Jahren? Das ist die entscheidende Frage. Hängt ja auch irgendwie davon ab, welche Werke des 88-jährigen Filmemachers man letzthin geschätzt hat. Und warum man überhaupt noch Meisterwerke von Filmemachern in diesem hohen Alter erwarten sollte, anstatt sich daran zu erfreuen, dass sie überhaupt noch Filme machen. Über jede Minute sollte man sich freuen! Entscheidend ist, dass der 50. Film Allens, der erste, den er komplett in französischer Sprache gedreht hat, sich wunderbar einreiht in die ernsten Filme Allens, in denen er sich den Kopf zerbricht über das Wesen des Zufalls, Schuld und Verbrechen, Gerechtigkeit und Sühne, Filme wie „Verbrechen und andere Kleinigkeiten“, „Match Point“, „Cassandras Traum“ oder „Irrational Man“. Allerdings hat „Ein Glücksfall“ ein Federn im Schritt, den man eher mit leichteren Arbeiten in Verbindung bringen würde wie „Vicky Cristina Barcelona“, was vielleicht auf die ungewohnte Drehsituation in der französischen Hauptstadt zurückzuführen ist, vielleicht aber auch auf den Umstand, dass Allen erstmals seit Beginn seiner Karriere als Filmemacher ein paar Jahre zwischen zwei neuen Arbeiten hatte verstreichen lassen müssen. 

Eine zufällige Begegnung auf den Straßen von Paris hat in Woody Allens „Ein Glücksfall“ folgenschwere Konsequenzen; Foto: Weltkino
Eine zufällige Begegnung auf den Straßen von Paris hat in Woody Allens „Ein Glücksfall“ folgenschwere Konsequenzen (Foto: Weltkino)

„Cantaloupe Island“ von Herbie Hancock setzt zum Einstieg den Ton. Gewiss per se kein besonders originell gewähltes Stück, aber angesichts der Neigung Allens, bei der musikalischen Untermalung bevorzugt auf deutlich ältere Jazzstandards zurückzugreifen, ein spürbarer Hauch frischer Luft. Ein Allen-Film, zu dem man grooven kann. Warum nicht? Entsprechend ist der Ton beschwingt, fast beschwipst, wenn er mitten auf der Straße zufällig die attraktive Fanny auf einen alten Schulfreund treffen lässt, den jungen Schriftsteller Alain. Es knistert. Wir wissen, dass es zu einer Affäre kommen wird. Und wir wissen zusammen mit Fanny, dass das keine gute Idee ist. Weil ihr sehr reicher Ehemann Jean vor Eifersucht kocht und nichts mehr hasst, als wenn er sich hintergangen fühlt. Die hartnäckigen Gerüchte, er habe früher schon einmal einen beruflichen Kontrahenten um die Ecke bringen lassen, mag Jean zwar in der Öffentlichkeit bestimmt von sich weisen. Aber Melvil Poupaud spielt diesen Machtmenschen weniger hintergründig als abgründig, weshalb die Tragödie ihren Lauf nimmt und mit der Ermordung des Widersachers erst beginnt. 

Das Szenario könnte Chabrols „Die untreue Frau“ entnommen sein, der schon das Vorbild für Adrian Lynes „Untreu“ war. Aber Woody Allen dreht die Idee konsequent weiter. Die Schuld ist hier keine tonnenschwere Last auf den Schultern des Mörders, der sich der Tragweite seiner Handlungen bewusst ist und sich im Recht fühlt. Es geht eher darum, wie weit er gehen wird, um nicht geschnappt zu werden. Der geniale Dreh beim Showdown, den man in dieser Form wohl kaum so kommen sieht, wurde bei der Weltpremiere auf der Mostra in Venedig mit euphorischem Applaus quittiert: Was mit einem Zufall beginnt, endet mit einem ebensolchen. Und ist ein Glücksfall mit zwei sympathischen Hauptdarstellern (Lou De Laâge, Niels Schneider), einer blendend aufgelegten Valerie Lemércier als Fannys Mutter, die alsbald Verdacht schöpft, und den gewohnt ausgesuchten Bildern von Vittorio Storaro, der zum fünften Mal in Folge für Woody Allen das Licht gesetzt hat. Ein hintergründiger Spaß, der immer dann besonders schmunzeln lässt, wenn die schlimmsten Dinge passieren. 

Thomas Schultze