Verschachtelt erzähltes Drama in drei Teilen, in dem es darum geht, ob ein Lehrer Gewalt gegen einen Mitschüler ausgeübt hat.
FAST FACTS:
• Überwältigende Kritiken für den Film von Cannes-Gewinner Hirokazu Kore-eda
• Auszeichnung mit dem Drehbuchpreis des 76. Festival de Cannes
• Letzte Arbeit des legendären japanischen Musikers Ryûichi Sakamoto
CREDITS:
O-Titel: Kaibutsu; Land/Jahr: Japan 2023; Laufzeit: 127 Minuten; Regie: Hirokazu Kore-eda; Drehbuch: Yûji Sakamoto; Besetzung: Sakura Andô, Eita Nagagyama, Soya Kurokawa; Verleih: Wild Bunch; Start: 21. März 2024
REVIEW:
Wenn man sich auf etwas einigen kann im Kino von Hirokazu Kore-eda, Cannes-Gewinner 2018 mit „Shoplifters – Familienbande“, dann ist es der humanistische Blick des Filmemachers, das zutiefst Menschliche, das seinen immer neuen Betrachtungen zum Thema Familie innewohnt, eine tiefe Liebe für die, die man als Außenseiter in einer rigiden Gesellschaft wie der japanischen ansieht. Das hat ihm Vergleiche mit Ozu eingebracht, die aber nur den Blick auf die Welt betreffen. Kore-edas Kino mag die Welt nicht visuell entwurzeln, statische bis meditative Betrachtungen, die einfach nur beiwohnen, sind sie aber auch nicht.
„Die Unschuld“ folgte im vergangenen Jahr im Wettbewerb von Cannes nur ein Jahr auf „Broker“, seine erste Arbeit in koreanischer Sprache. Der neue Film ist ebenfalls ein Novum: Erstmals arbeitet der 61-jährige Regisseur nicht mit einem eigenen Drehbuch, sondern arbeitet mit einem Skript des in Japan vor allem als Autor für hochwertige TV-Stoffe gefeierten Literaten Yûji Sakamoto, der dafür in Cannes mit dem Drehbuchpreis gewürdigt wurde. Ohne übertreiben zu wollen: Das merkt man. Die Handlung ist viel vertrackter aufgesetzt als sonst bei Kore-eda, tatsächlich ist die Geschichte ein bisschen wie eine Mystery-Box, wird dreimal neu erzählt, jeweils aus einer anderen Sichtweise, und erschließt sich voll und ganz tatsächlich erst beim letzten Durchlauf, trifft einen emotional dann auch mit einer größeren Wucht, als man es im Verlauf des Films vielleicht erwarten würde. Wer die Form eines Tryptichons wählt, verweist natürlich ganz automatisch auf Kurosawas „Rashomon“, wobei konzediert sei, dass nicht die Wahrheit selbst und ihre subtile Wahrnehmung im Mittelpunkt der Erzählung steht, sondern durch die Form gezielt der Blick auf die Wahrheit und nichts als die Wahrheit lange Zeit verdeckt bleibt.
Ausgangspunkt für die drei Geschichten ist stets der nächtliche Brand eines Hochhauses. Diesen erlebt man zunächst aus der Sicht einer alleinerziehenden Mutter: In ihren Augen gibt es berechtigten Anlass zur Sorge, ein Lehrer könne es auf ihren etwa 13-jähriger Sohn abgesehen haben, ihn womöglich sogar körperlich züchtigen. Im zweiten Anlauf sieht man nun den angeklagten Lehrer. Und man ist erstaunt, weil das, was man zu sehen bekommt, völlig konträr läuft zu den Anschuldigungen, denen er sich ausgesetzt sieht. Er ist ein bemühter und engagierter Mann. Allein der Gedanke, einen Schüler in welcher Form auch immer unter Druck zu setzen, ist ihm spinnefeind. Wie bringt man diese beiden gegensätzlichen Geschichten zusammen? Indem endlich der Blick der Erwachsenen aufgegeben wird, der Film nun dem Jungen selbst folgt. Wie sagt man so schön: Es ist, als wäre man in einem anderen Film. Weil der Zuschauer nun etwas ganz Offensichtliches erlebt, das Mutter und Lehrer einfach nicht aufgefallen ist. Jetzt erzählt „Die Unschuld“ die Geschichte einer Freundschaft, die nicht sein darf, aus der sich womöglich etwas ganz Anderes, Zärtliches und Intimes entwickelt.
„Die Unschuld“ ist Hirokazu Kore-edas düsterster Film bislang, er hat nicht den Schwung, den seine anderen Oden an Familie und Zusammenhalt haben, auch wenn das auch hier im Kern der Erzählung steckt. Ebenso aber geht es um Mobbing und Gewalt, Angst und Entfremdung, ein Film, der lange an sich zerrt und mit sich kämpft, bis er im letzten Akt dann endlich den Blick freigibt auf jene Unschuld, die im Titel angekündigt wird. Da sieht man nämlich, dass es all die Misstöne nur gab wegen einer Freundschaft zwischen zwei Jungen, dass das Monströse, das im internationalen Titel „Monster“ anklingt, nur ein großer Irrtum wäre, wenn man die Kinder einfach nur Kinder sein ließe und ihnen ein Leben als große Entdeckungsreise zustünde. Hirokazu Kore-eda konnte auf bereits bestehende Musik von Riyûichi Sakamoto zurückgreifen, sowie auf eigens neu komponierte Passagen. Es war die letzte Arbeit des legendären Komponisten und Musikers, der am 28. März 2023 verstarb und die Premiere des Films im Mai nicht mehr miterleben konnte.
Thomas Schultze