Höchst bewegendes Porträt eines Mathewunderkinds, das von seinem Doktorvater fallengelassen wird und als junge Frau einen neuen Sinn im Leben finden muss.
FAST FACTS:
• Überragende Schauspielleistung von Ella Rumpf in einer sehr untypischen Rolle
• Rückkehr von Anna Novion auf den Regiestuhl nach zehnjähriger Pause
• Französisch-weibliche Antwort auf „A Beautiful Mind“
• Weltpremiere als Special Screening beim 76. Festival de Cannes 2023
CREDITS:
O-Titel: Le théorème de Marguerite; Land / Jahr: Frankreich, Schweiz 2023; Laufzeit: 112 Minuten; Regie: Anna Novion; Drehbuch: Anna Novion, Mathieu Robin, Marie-Stéphane Imbert, Agnès Feuvre; Besetzung: Ella Rumpf, Jean-Pierre Darroussin, Clotilde Courau, Julien Frison, Sonia Bonny; Verleih: Weltkino; Start: 27. Juni 2024
REVIEW:
Es ist ein Schock, Ella Rumpf erstmals zu sehen in „Die Gleichung ihres Lebens“. Ein beabsichtigter Schock, weil man die junge Schweizerin vor allem kennt für wilde Rollen, in denen sie sich veräußert, Figuren, die sich über ihre Körperlichkeit definieren in ohnehin sehr körperlichen Stoffen – siehe Julia Ducournaus „Raw“ und Jakob Lass‘ „Tiger Girl“ oder Serien wie „Freud“ und „Tokyo Vice“. Hier ist sie Marguerite, die Klasssenstreber:in, die jeder von uns hatte (oder selbst war): eine verdruckste, mausige, junge Frau, 26 Jahre alt, mit ungewaschenen Haaren, billigem Kassengestell und Filzpantoffeln – und ein Wunderkind, die Vorzeigemathematikerin an der Pariser ENS, unfehlbare Lieblingsschülerin ihres Doktorvaters Werner, auf dem besten Wege, in ihrer Doktorarbeit die nötigen Vorarbeiten zur Lösung des vertrackten Goldbach-Theorems zu finden, das Wissenschaftlern rund um die Welt seit Jahrzehnten den Verstand raubt.
So lernt man die ungelenke Heldin von „Die Gleichung ihres Lebens“ kennen, eingebettet in einer Welt voller Formeln und gerader Kanten. „Ein Leben ohne Mathematik kann ich mir nicht vorstellen“, sagt sie in einem Interview. Und da ahnt man schon, was kommen wird, in Anna Novions wunderbarem Film, ihrer ersten Kinoregiearbeit seit zehn Jahren, eine Éducation sentimentale, eine Lektion in Sachen Leben, die sie schließlich auch eine bessere Mathematikerin werden lässt. Überraschend und bewegend ist, wie das geschieht, wie die Regisseurin eine kluge Szene an die andere reiht, in einer unablässigen Abfolge guter Ideen, stets aufgelöst in Kinobilder, die illuminieren, Einblicke geben in die rätselhafte Natur der Mathematik und der noch unergründlicheren Tiefe der Hautfigur und der Menschen, die ihr Dasein bevölkern.
Früh kommt der Absturz, sagt sich der Doktorvater von seiner Schülerin los, lässt sie fallen, als ein anderer Schüler bei einer Präsentation der Ergebnisse ihrer dreijährigen Forschungsarbeit einen eklatanten Fehler in den Grundlagen ihrer Beweiskette aufdeckt. Marguerite bricht ihr Studium ab, verlässt die ENS. Und begibt sich, der Grundlage ihrer bisherigen Existenz beraubt, auf die Suche nach einem neuen Sinn. Sie kommt unter bei einer Zufallsbekanntschaft, in deren Wohnung ein Zimmer frei geworden ist, eine ausdrucksstarke Tänzerin, die ungefähr das genaue Gegenteil von Marguerite ist: lebensfroh, extrovertiert, spontan, abenteuerlustig. Als sie ihre neue Freundin mitnimmt in die Bars und Clubs der Stadt, in sattes Rot und Stroboskopgewitter getaucht, Gefahr und Hedonismus pur, ergeben sich tolle Erweckungsmomente. Die Szene, in der Marguerite einem Jungen aus dem Club folgt und sich erstmals nimmt, was sie und ihr Körper brauchen, ist gleich ein kleines Highlight, ebenso wenn sie ihr Talent für Mahjong entdeckt und in illegalen Spielhallen von Sieg zu Sieg eilt.
Vor allem aber ist klar, dass sie zwar Abstand suchen mag, aber die Mathematik niemals hinter sich wird lassen können. Wissenschaft ist ihre Bestimmung, ihr Talent, aber vielleicht doch anders, als es ihr in ihrem bisherigen Leben ergangen war. Wie es „Die Gleichung ihres Lebens“ gelingt, einerseits „A Beautiful Mind“ und „Hidden Figures – Unerkannte Heldinnen“ als maßgebliche große Filme über Mathegenies zu evozieren, aber dann doch eher zu sein wie ein früher Film von Lynne Ramsay oder der leider in Vergessenheit geratene „Under the Skin“ von Caroline Adler, also große wichtige Arbeiten weiblicher Filmemacher über Erleben und Fühlen, Zweifel und Hadern junger, moderner Frauen, das ist große Kunst, buchstäblich wie die Lösung des Goldbach-Theorems, die Quadratur des Kreises, emotionales Publikumskino, das keine Abstriche an seine Ansprüche zulässt. Und eben obendrein noch Ella Rumpf, die man noch nie so gesehen hat. Und auch noch nie so gut, so differenziert, so genau.
Thomas Schultze