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REVIEW KINO: „Die Fotografin“

Aufrüttelndes Porträt der 1977 verstorbenen Kriegsfotografin Lee Miller, basierend auf der Biografie ihres Sohnes Anthony Penrose („Immer lieber woandershin – Die Leben der Lee Miller“).

CREDITS:
O-Titel: Lee; Land/Jahr: USA, 2023; Laufzeit: 116 Minuten; Drehbuch: Liz Hannah, Marion Hume, John Collee; Regie: Ellen Kuras; Besetzung: Kate Winslet, Alexander Skarsgård, Andrea Riseborough, Marion Cotillard, Josh O’Connor, Andy Samberg, Samuel Barnett; Verleih: Studiocanal; Start: 26. September 2024

REVIEW:
An einer Stelle etwa in der Mitte des Films erinnert der „Life Magazine“-Reporter David E. Scherman die Titelfigur daran, wie man am besten eine Geschichte erzählt – mit einem Verweis auf Ernest Hemingways berühmtes Zitat aus der Einleitung zu „Men at War“: „Erst das Wahre, dann mach, dass es gut wird.“ Der Satz beschreibt genau das, was Lee Millers Arbeit auszeichnet: der Wahrheit auf den Grund gehen, Realität und Kunst, Reportage und Kreativität miteinander vereinen. Ihrer Sinnsuche und unerbittlichen Hartnäckigkeit sind einige der einflussreichsten Fotografien des 20. Jahrhunderts zu verdanken, nicht zuletzt das ikonische Bild, auf dem sie trotzig in Hitlers Badewanne posiert. In seinem Buch „Immer lieber woandershin – Die Leben der Lee Miller“ erzählt Anthony Penrose, wie seine Mutter in den 1920er-Jahren als Model und Muse des Avantgarde-Künstlers Man Ray berühmt wurde, bis sie es leid war, das Motiv männlicher Kollegen zu sein, sich selbst hinter die Kamera stellte, und sich auch dabei immer wieder neu erfand. Acht Jahre lang kämpfte Kate Winslet nicht nur als Hauptdarstellerin, sondern auch als Produzentin für die Leinwandadaption dieser Biografie, entwickelte das Drehbuch gemeinsam mit Liz Hannah („Die Verlegerin“), der Journalistin Marion Hume und John Collee („Hotel Mumbai“), als Regisseurin verpflichtete sie die legendäre Kamerafrau Ellen Kuras, selbst eine Pionierin, die für Größen wie Martin Scorsese („Pretend It’s A City“) und Spike Lee (u.a. „Summer of Sam “) und mehrfach mit Winslet („Vergiss mein nicht“, „Die Gärtnerin von Versailles“) gearbeitet hat, und die für ihre politische Dokumentation „The Betrayal – Nerakhoon“ 2009 eine Oscarnominierung erhielt. 

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Kate Winslet als Lee Miller in „Die Fotografin” (Credit: Kimberly French/Sky UK Ltd)

Kuras‘ Spielfilmdebüt bewegt sich dabei bisweilen auf einem schmalen Grat zwischen Dokumentation und Inszenierung, rekonstruiert mit Hilfe des Kameraveteranen Pawel Edelman („Der Pianist“) detailgenau Lee Millers Aufnahmen, die später auch im Abspann zu sehen sind. Fast wie gemalt wirken die anfänglichen Szenen, in denen man die Protagonistin als sehr freizügige Künstlerin in den Armen ihrer sehr freizügigen Künstlerfreunde kennenlernt, bei einem Oben-Ohne-Picknick in südfranzösischer Bohemian-Kulisse, wo alle noch daran glauben, dass Kreativität eine Macht ist, mit der man alles besiegen kann. Hier lernt Lee die Liebe ihres Lebens kennen, Roland Penrose (Alexander Skarsgård), dem sie 1939 nach London folgt. Als der Krieg ausbricht, erkämpft sich das ehemalige „Vogue“-Model einen Job als Fotografin für das Magazin. Sie drängt die Chefredakteurin Audrey Withers (Andrea Riseborough) dazu, sie an die Front zu schicken, was ihr als Frau von der britischen Regierung verweigert wird, dank ihrer amerikanischen Staatsbürgerschaft erhält sie eine Akkreditierung von der US Army. Quasi im Gefecht trifft sie auf den Korrespondenten David E. Scherman, verkörpert von Schauspieler und Comedian Andy Samberg, mit dessen breitem Grinsen man hier so gar nicht gerechnet hätte, und es ist auch für Lee überraschend, auf einen Kollegen zu treffen, der sie unterstützt, der sich ihr nicht in den Weg stellt oder selbst Kriege anzettelt, wie der Modefotograf Cecil Beaton (Samuel Barnett). Miller und Scherman werden zum eingeschworenen Team. Die hier nur angedeutete romantische Beziehung ist nicht weiter relevant, verleiht aber Sambergs Figur die Glaubwürdigkeit und Tiefe, die das Drehbuch für seine Rolle ansonsten nicht vorgesehen hat. Gemeinsam dokumentieren sie schließlich die Befreiung von Paris und der Konzentrationslager in Buchenwald und Dachau, eine Erfahrung, die damit endet, dass sie sich am 30. April 1945 unter die GIs mischen, die die verlassene Wohnung am Münchner Prinzregentenplatz belagert haben, in der Lee Millers Selbstporträt „In Hitler’s Bathtub“ entsteht.

Bis zu einem gewissen Punkt ist „Lee“ vor allem ein Kate-Winslet-Film, der fast mehr von der Darstellerin als von der Regisseurin bestimmt wird, mit ihrer fast aufdringlichen Körperlichkeit und Nacktheit, mit der man sehr schnell konfrontiert wird, man kann die Titelfigur noch nicht ganz finden in der Figur der Schauspielerin. Erst als Lee nach langem Ringen die richtigen Worte – „Erst das Wahre, dann mach, dass es gut wird“ – für ihren Nachruf findet, den sie während des Fronteinsatzes abliefern soll, findet sie zu sich selbst, und mit einem Mal verschwindet auch Winslet hinter Lees Kamera. Schon kurz darauf wird es „richtig schlimm“, kommentiert sie lakonisch aus dem Off, und es folgen Bilder, die ohne den todtraurigen Score von Alexandre Desplat zu realistisch wären, um sie ertragen zu können, sofern man nicht völlig abgestumpft ist. Man hat fast das Gefühl, dass die ungewöhnliche, weibliche Perspektive dem Gezeigten eine weitere, sinnliche Dimension hinzufügt, etwa wenn Miller und Scherman den Waggon eines Todeszugs öffnen, und sich gar nicht genug Stoff vor Mund und Nase ziehen können, weil sie nicht atmen können, während in unmittelbarer Nähe unbekümmerte Kinder vor dem Bahnhof spielen wie in „The Zone of Interest“. Die Kamera macht bewusst, zeigt das, was man mit dem bloßen Auge nicht sieht, jede Szene ist eine Suche nach Wahrheit, nach den Details im Verborgenen, Momentaufnahmen, bei denen man sich zwingen muss, auf den Auslöser zu drücken, weil das genaue Hinsehen Überwindung kostet und sich Körper, Herz, Verstand dagegen wehren. Der Blick der Künstlerin verhindert, dass der Horror seine Wirkung verliert.

Man muss nicht erwähnen, wie wichtig es immer noch ist, nicht nur hinzuhören sondern auch dorthin zu sehen, wo es schmerzt, und hoffentlich kommt „Die Fotografin“ gerade zum richtigen Zeitpunkt in die Kinos. Der Film ist wie die Fortführung und Vollendung von Millers Arbeit, der sich darauf konzentriert, wie das, was sie mit ihrer Kamera festhält, sie selbst verändert, weil diese Bilder verändern müssen, und weil man danach nicht einfach wieder zum Kartoffelschälen übergehen kann. Er zeigt die Ereignisse dieser wohl wichtigsten Epoche in ihrem Leben als Rückblende, ausgehend von einer Interviewsituation Ende der 1970er, in der Lee als gealterte und sehr verbitterte Frau einem jungen Fragesteller (Josh O‘Connor) gegenübersitzt und vor mehreren Kartons und Stapeln ihrer Fotografien, die bis dahin noch nie jemand gesehen hat. Tatsache ist, dass viele davon bis dahin nie gedruckt wurden, was Lee Miller ebenso verfolgt hat wie das Erlebte. Die Szene, in der sie die „Vogue“-Chefin Audrey Withers dafür zur Rede stellt, und in der Andrea Riseborough und Kate Winslet sich mehr als nur innerlich aufreiben, ist wie eine Absage an alles, wofür sie gekämpft hat – und auch ein Beweis dafür, dass Kate Winslet hier die beste Rolle ihres Lebens spielt. Gut möglich, dass sie diesen Film braucht, um einen zweiten Oscar zu gewinnen. Aber „Lee“ braucht auch Kate Winslet, weil es keiner anderen gelingen würde, das Publikum auf diese Weise in die Geschichte hineinzuziehen, mit ihrem Mut, ihrer Wahrhaftigkeit, mit Leib und Seele. Nach dem Motto: Ihr wollt tits and ass? Hier habt ihr‘s, aber dann nehmt auch den Rest. 

Corinna Götz