Historischer Crowdpleaser über eine Erbengruppe, die im geerbten Haus unerhörte Entdeckungen macht, die einen völlig neuen Blick auf die Historie der Kunst erlauben.
FAST FACTS:
• Der neue große Kinofilm des ebenso großen Cédric Klapisch
• Tolle Parade französischer Stars und der Entdeckung Suzanne Lindon im Mittelpunkt
• Schöner Erfolg in den französischen Kinos mit aktuell 650.000 Tickets
• Weltpremiere auf dem 78. Festival de Cannes außer Konkurrenz
• Deutschlandpremiere auf dem 42. Filmfest München
CREDITS:
O-Titel: La venue de l’avenir; Land / Jahr: Frankreich 2025; Laufzeit: 124 Minuten; Regie: Cédric Klapisch; Drehbuch: Cédric Klapisch, Santiago Amigorena; Besetzung: Suzanne Lindon, Paul Kircher, Vassili Schneider, Vincent Macaigne, Julia Piaton, Abraham Wapler, Zinedine Soualem, Cécile de France; Verleih: STUDIOCANAL; Start: 14. August 2025
REVIEW:
Was treibt Kreativität, was ist der Funke, der einen Künstler etwas völlig Neues erschaffen lässt, wie erzählt man das in einem Film? Das sind die zentralen Fragen, die Cédric Klapisch in seinem neuen Film beschäftigen, der französische Filmemacher, der seit nahezu 40 Jahren verlässlich schönes Erzählkino mit einem erwachsenen Blick abliefert, mit „L’auberge espagnole – Barcelona für ein Jahr“ seinen größten Hit hatte, vor allem aber 2015 den Welterfolg der Serie „Call My Agent“ ebnete mit der Inszenierung der beiden ersten Folgen. Auch in seinem neuen Film, der seine Weltpremiere ziemlich am Schluss des diesjährigen Festival de Cannes feierte außer Konkurrenz, interessieren den 64-jährigen Filmemacher wie so oft die Unwägbarkeiten des Schicksals, der Zufall als Himmelsmacht, das Aufeinandertreffen scheinbar unvereinbarer Welten, hier zusammengeführt als keckes Wechselspiel zwischen Heute und Damals: wie man es sich heute zusammenreimt und was einst wirklich passiert ist, auch wenn das nur Teil des fantasievollen Spiels ist, um sich einen Reim darauf zu machen, was geschehen war, damit junge Künstler Ende des 19. Jahrhunderts die Welt auf einmal so anders empfanden, dass eine so wichtige Epoche wie der Impressionismus entstehen konnte.
Aber das ist nicht der Hook, der einen in die Handlung zieht. Um eine Zufallsgemeinschaft in der Gegenwart geht es erst einmal, um vier Auserwählte einer 50 Köpfe umfassenden Erbengemeinschaft, die als Nachkommen einer zurückgezogen lebenden Frau identifiziert wurden: Gemeinsam haben sie ein seit den Vierzigerjahren nicht mehr bewohntes Haus in der Normandie geerbt, das mit ihrer Zustimmung abgerissen soll, um einem großen Einkaufszentrum zu weichen, der Lauf der Zeit, Gentrifizierung in a nutshell. Die Vier kennen einander nicht, wussten alle bis jetzt nichts von ihrem Glück und müssen sich nun kennenlernen und zusammenraufen, um bei einem Ortstermin eine Entscheidung zu treffen. Das Quartet ist ein schöner Querschnitt der Gesellschaft, der von dem aktuell unvermeidlichen (ein großes Glück!) Vincent Macaignegespielte Imker Guy, die von Julia Piaton gespielte Geschäftsfrau Cécile, der von Zinedine Soualemgespielte Lehrer Abdel und der junge Fotograf Seb, gespielt von Abraham Wapler. Es ist gar nicht so einfach einen Konsens zu finden, bis sie sich in dem alten Haus auf Spurensuche begeben, wer diese Besitzerin Adèle denn tatsächlich gewesen sein mag.
Womit der zweite Handlungsstrang eröffnet wird, der im auslaufenden 19. Jahrhundert spielt, und von einer jungen Frau aus der Provinz erzählt, die sich auf den Weg nach Paris macht, um ihre wahre Mutter ausfindig zu machen, die sie als Baby weggegeben hatte. Das ist das wahre Abenteuer, mit schönen stilisierten Bildern umgesetzt, wenn Adèle in der großen Stadt Solidarität bei zwei jungen Künstlern findet, gespielt von den Jungstars Paul Kircher und Vassili Schneider, der eine ein aufstrebender Maler, der andere ein Fotograf, die spüren, dass dies der richtige Zeitpunkt ist, sich inspiriert vom Impressionismus in Paris aufzuhalten, eine Stadt, die dabei ist, die Vergangenheit abzuschütteln und ein Licht in die Zukunft zu strahlen, in einer Szene geradezu buchstäblich, als auf dem Champs Élysées erstmals die elektrische Straßenbeleuchtung eingeschaltet wird und die Stadt des Lichts buchstäblich erstrahlt. Dass dann noch ein weiterer Handlungsstrang in der Vergangenheit erzählt wird, der wiederum die Geschichte von Adèles Mutter erzählt und dann tatsächlich die großen Künstler der Zeit, Sarah Bernhardt, Hugo, Renoir, insbesondere Monet, Begründer des Impressionismus, eine Rolle spielen, ist eine der Überraschungen, die diese Wundertüte Film hervorzaubert und doch vielleicht nur Ausdruck eines Fiebertraums und Drogenrauschs ist.
„Die Farben der Zeit“ ist nicht der eleganteste Film, den Cédric Klapisch jemals gedreht hat. Tatsächlich wünschte man sich manchmal mehr Schwärmerei, mehr Gleiten, mehr Zauber in einem Film, in dem das Schwärmen, Gleiten und Gleiten ein so wichtiges Attribut ist. Aber das ließe sich auch über das Drehbuch von Klapisch und Santiago Amigorena sagen, dass mit so vielen Bällen gleichzeitig in drei Zeitebenen jongliert und die einzelnen Geschichten mehr als nur skizzieren will. Vielleicht fand der Regisseur allzu viel Kunstfertigkeit bei der Umsetzung auch anmaßend: Die große Kunst in diesem Film stammt von Monet, alle anderen, die jungen Leute im Jahr 1895 und der junge Fotograf in der Gegenwart wie auch der Film selbst stehen nur auf den Schultern dieses Giganten. Und von Suzanne Lindon als Adèle, die 25-jährige Tochter von Vincent Lindon und Sandrine Kiberlain (aktuell in „Die Barbaren – Willkommen in der Bretagne“ zu sehen, hier unsere SPOT-Besprechung), deren unkonventionelles Gesicht selbst wie ein Gemälde ist: In ihrer ersten großen Hauptrolle ist sie die eigentliche Entdeckung, erstrahlt wie das nun mal ist, wenn ein Stern geboren wird. Da kann alles andere noch so interessant sein, die diskutierten Themen noch so aktuell und brisant, da gibt es am Ende eben doch nur sie, diese junge Frau, die für diesen Film ist, was „Impression, Sonnenaufgang“ für den Impressionismus ist, Herzstück und Inspiration.
Thomas Schultze