Immersives Leinwandporträt des musikalischen Genies und berühmtesten Werk des französischen Komponisten Maurice Ravel.
FAST FACTS:
• Elegant und bravourös inszeniert von Anne Fontaine („Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft“), die mit ihrer Koautorin Claire Barré („Bis an die Grenze“) auch das Drehbuch verfasste
• Deutschlandpremiere im November 2024 im Rahmen der Französischen Filmwoche in Berlin, Kinostart zum 150. Geburtstag des Komponisten am 7. März 2025
CREDITS:
O-Titel: Boléro; Land/Jahr: Frankreich/Belgien, 2023; Laufzeit: 121 Minuten; Drehbuch: Anne Fontaine, Claire Barré, Pierre Trividic, Jacques Fieschi; Regie: Anne Fontaine; Besetzung: Raphaël Personnaz, Doria Tillier, Jeanne Balibar, Emmanuelle Devos, Vincent Perez, Sophie Guillemin; Verleih: X Verleih; Start: 6. März 2025
REVIEW:
Maurice Ravel brauchte fast zehn Jahre, um seine Komposition als das Meisterwerk anzuerkennen, als das es von vielen empfunden wird. Anne Fontaine benötigt 121 Minuten, um sein berühmtestes Musikstück auf der Leinwand in ein Gefühl zu verwandeln. Der Film ist eine Art immersives, transformatives Biopic über die schwere Geburt und das Mysterium von Ravels Boléro, über die Symbiose von Werk und Künstler, das musikalische Genie eines Mannes, über den nur wenig bekannt ist, der stets seine Schöpfungen für sich sprechen lassen hat. Genau darauf – und auf einem Buch von Marcel Marnat – basiert das Drehbuch, das die Regisseurin wie zuletzt bei dem Polizeidrama „Bis an die Grenze“ gemeinsam mit Claire Barré verfasst hat, das mit dem Stampfen von Maschinen beginnt und mit wild pochendem Herzen endet.
Raphaël Personnaz, bekannt aus Ralph Fiennes’ Regiearbeit „Nurejew – The White Crow“, und der Serie „L’Opéra – Tanzen in Paris“, verkörpert mit taktvoller Zurückhaltung den Ingenieurssohn Ravel, der sich im Jahr 1928 als der bedeutendste lebende Komponist Frankreichs etabliert hat. Ausgerechnet er, der als asketisch geltende Außenseiter, wird von der exzentrischen, mit Turban und Zigarettenspitze um ihn herumscharwenzelnden Ida Rubinstein (Jeanne Balibar), Tänzerin der Ballets Russes, zu einer Auftragsarbeit überredet, die „fleischlich! betörend! erotisch!“ sein soll. Ravel sieht sich zunächst außerstande, etwas Adäquates zu Papier zu bringen, möchte offensichtlich am liebsten davonlaufen, sucht monatelang und in seinen Erinnerungen nach jener zufälligen Eingebung, in der das Thema des Balletts liegen könnte. In Rückblenden werden prägende Momente seiner Vergangenheit beleuchtet, die Einfluss auf die letztlich so unerhört einfache Idee haben werden – sein fünfmaliges Scheitern beim Prix de Rome, der Dienst im Ersten Weltkrieg, der Tod der geliebten Mutter (Anne Alvaro), ein folgenschwerer Sturz aus dem Fenster, der möglicherweise die Ursache einer schwer zu diagnostizierenden, neurologischen Erkrankung ist, deren Anzeichen sich bereits zeigen. Er neigt zu Verwirrung und Vergesslichkeit, seine Haushälterin Madame Revelot (Sophie Guillemin) trägt ihm ständig die guten Bühnenschuhe nach, die Inszenierung springt in verschiedene Zeitebenen, ehe man es sich versieht. Die tänzelnde Kameraführung, das Licht, die Montage, die Kostüme und Ausstattung haben eine Eleganz und Zartheit, die im starken Kontrast zur industrialisierten Welt steht, die sich um Ravel herum entwickelt. Glaubt man der Geschichte, so ist der Boléro ein Zufallstreffer, eine Notlösung, Maschinengeräuschen nachempfunden, die den treibenden Rhythmus vorgeben, dessen Intensität sich langsam steigert und in einem überwältigenden Finale gipfelt – das ist die Struktur, die Dramaturgie des Films, der die Persönlichkeit Ravels in seiner Musik findet.
Ravels schärfster Kritiker Pierre Lalo (Alexandre Tharaud, der auch die Filmmusik einspielte) wirft ihm vor, keine Emotionen erzeugen zu können. Die Regisseurin zeigt ihn als Mann, der bei einem Bordellbesuch zugeknöpft auf der Bettkante sitzt, der nur wenige Menschen an sich heranlässt. Neben seiner Mutter sind dies die Pianistin Marguerite Long (Emmanuelle Devos), der optimistische, loyale Cipa Godebski (Vincent Perez) und vor allem dessen Halbschwester, die meist unglücklich verheiratete Künstlermuse Misia Sert (Doria Tillier). Immer wieder kommt die Geschichte auf die große unerfüllte Liebe zu Misia zurück, auf die Zärtlichkeit und Zerbrechlichkeit der platonischen Beziehung. Das sinnliche Knistern eines Seidenhandschuhs auf ihrer Haut prägt sich in Ravels Gehör ein wie das Prasseln des Regens, Wind, der über Dachziegel streicht, Vogelgesang. Das ununterbrochene Hineinhorchen in sich selbst und in die Welt wirkt wie eine Qual, das Komponieren nicht wie ein befreiender Schaffensrausch, sondern wie harte Arbeit, in der sich Ravel oft verliert. Die Dialoge kreisen stets um ein und dasselbe Thema, deuten den bevorstehenden Welterfolg des noch ungeborenen Orchesterstücks an. Bis zu dessen Vertonung nimmt sich der Film Zeit, um das Publikum mit Ravels Oeuvre vertraut zu machen, schickt ihn auf Tournee in die USA, reiht Konzertauftritte wie ein Medley aneinander. Als er kurz vor der geplanten Ballettpremiere noch keine einzige Note zu Papier gebracht hat, die ihn und Rubinstein befriedigen könnte, während die Uhr immer lauter tickt, steigert sich die Spannung, bis Madame Revelots Begeisterung für den Schlager „Valencia“ den Durchbruch bringt.
Eine Allegorie des Lebens, das im Chaos endet, so beschreibt Ravel an einer Stelle sein Werk, entstanden unter dem Eindruck der industriellen Revolution, des Krieges und des Jazz, den er in New York entdecken konnte, eine Metapher, eine Ode an die Moderne. Die Melodie dauert eine Minute und wird 17-mal wiederholt (die Länge wurde mit der Auftraggeberin ausgehandelt). Die Uraufführung in der Pariser Oper enthüllt jedoch eine ungeahnte Erotik hinter der simplen Stilübung, die dem Meister das blanke Entsetzen ins Gesicht treibt: die raschelnden Snare-Drums, die schlangenbeschwörenden Klarinetten, die Bauchtanzbewegungen – es ist, aus der Sicht der Hauptfigur, vulgär, albern und geradezu plump, das Publikum ist begeistert. Nach dem Applaus drückt ihm Ida Rubinstein einen symbolträchtigen Kuss auf die Stirn, ein Verrat, ein Abschied, Ravels Schöpfung lebt fortan ohne ihn weiter. Er existiert nur noch im Schatten des Boléro, was Personnaz’ charismatisch-sympathischer Darstellung eine feine Ironie entlockt. Als hätte sich für ihn der Rhythmus der Zeit verändert, scheint der Film im letzten Teil allein den Protagonisten altern zu lassen, während er sich weiter von der Welt entfernt, die ihm ohnehin fremd ist. Zurückgezogen in seinem Haus außerhalb von Paris (gedreht wurde am Originalschauplatz) sucht er bis zu seinem Tod 1937 nach dem „Anti-Boléro“, was ihm aufgrund seiner fortschreitenden Krankheit nicht mehr gelingen wird, die Sprache, das Lesen, das Schreiben, die Selbstwahrnehmung entgleiten ihm.
In einem berührenden Schlüsselmoment erkennt sich Ravel schließlich in seinem Meisterwerk wieder, in dem die betörende Hingabe Ida Rubinsteins ebenso steckt wie seine eigene technische Perfektion, was in dem zweistündigen Film noch häufiger anklingt, als es im Abspann behauptet wird („alle 15 Minuten ist irgendwo auf der Welt der Boléro zu hören“) – als wollte die Regisseurin tatsächlich jene hypnotische Kraft beweisen, die in der schlichten Wiederholung liegt. Hinter deren Einfachheit lauert eine faszinierende Komplexität, die jeder auf seine Weise deuten kann, die am Ende eine Dimension offenbart, die weit über die Cover-Versionen hinausgeht, die in den Opening Credits angespielt werden, von Symphonieorchestern und Mariachi-Gruppen, von Benny Goodman bis zu Deep Purple, von Reggae bis Techno. In ihrem spektakulären Finale zaubert Anne Fontaine ein Ballett auf die Leinwand, das buchstäblich dem Geist des Komponisten entspringt, das von einer so überwältigenden Intensität und Liebe getragen wird, dass man das Gefühl hat, das eigene Herz schlage noch lange nach dem Schlussakkord im Takt der Musik.
Corinna Götz