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REVIEW KINO: „22 Bahnen“


Verfilmung eines der erfolgreichsten deutschsprachigen Romane der letzten Jahre: Die Geschichte von Tilda, Tochter einer alkoholkranken Mutter, die sich im Laufe eines Sommers zwischen einer möglichen Karriere in Berlin und ihrer Verantwortung für ihre kleine Schwester entscheiden muss.

CREDITS: 
Land/Jahr: Deutschland 2025; Laufzeit: 105 Minuten; Drehbuch: Elena Hell; Regie: Mia Maariel Meyer; Besetzung: Luna Wedler, Zoë Baier, Jannis Niewöhner, Laura Tonke, Eleanor Reissa; Verleih: Constantin Film; Start: 4. September 2025

REVIEW:
Statistisch gesehen geht die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Debütroman mehr als eine Million Mal verkauft, gegen null, was Caroline Wahls Erstlingswerk zu einer Art Wunder der jüngeren deutschen Literaturgeschichte macht. „22 Bahnen“ handelt von Tilda, die mit ihrer geschiedenen, alkoholkranken Mutter Andrea und ihrer zehnjährigen Halbschwester Ida in einer Kleinstadt lebt – oder besser gesagt dort festhängt. Neben ihrem Mathematikstudium arbeitet sie an einer Supermarktkasse, um den Familienunterhalt zu sichern. Die Unberechenbarkeit ihrer Mutter bestimmt ihren durchkalkulierten Alltag, nur die gemeinsamen Routinen und die innige Schwesternliebe halten das Chaos zusammen und verhindern, dass irgendetwas davon nach außen dringt, obwohl in der Wohnung in der gar nicht so heiteren Fröhlichstraße ständig die Alarmglocken läuten. Bis sich im Sommer des Jahres 2013 alles verändern könnte: durch das Angebot einer Promotionsstelle in Berlin und durch den mysteriösen Viktor, der plötzlich und unerwartet Tildas regelmäßige Bahnen im Freibad kreuzt. 

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„22 Bahnen“ von Mia Maariel Meyer mit Jannis Niewöhner und Luna Wedler (Credit: Constantin Film)

Mit der willensstarken Protagonistin, die trotz ihrer Nöte und inneren Zerrissenheit nie den Blick für das Schöne verliert, selbstlos alles in Bewegung setzt, um ihre kleine Schwester für das viel zu frühe Erwachsensein zu wappnen, hat die Autorin eine Identifikationsfigur geschaffen, die bei aller Bescheidenheit geradezu nach einer Verfilmung gerufen hat und nun an den richtigen Stellen erhört wurde: von den Produzent:innen von BerghausWöbke, die zuletzt mit „September 5“ Geschichte geschrieben haben, und von Regisseurin Mia Maariel Meyer, die bereits mit ihren sozialkritischen Familiendramen „Treppe aufwärts“ und „Die Saat“ ein tiefes Verständnis für Menschen in prekären Lebenssituationen bewiesen hat, die vor der entscheidenden Herausforderung stehen, den Absprung zu schaffen oder nicht – eben so wie Caroline Wahls Romanheldin. 

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„22 Bahnen“ von Mia Maariel Mayer (Credit: Constantin Film)

Tildas innerer Monolog gibt auch in der Leinwandadaption off-screen den zärtlich-lakonischen Ton an. Das Drehbuch von Elena Hell und die Inszenierung werden von einer grenzenlosen Empathie und Solidarität mit der Hauptfigur getragen, die von Luna Wedler mit intuitiver, zurückhaltender Besonnenheit verkörpert wird. Die klare, kraftvolle Bildgestaltung von Tim Kuhn („KRANK Berlin“) konzentriert sich auf Gesichter und Stimmungen. Der Film geht auch dort in die Tiefe, wo die Vorlage hin und wieder etwas stereotyp bleibt. Dass die Beziehung der Schwestern zu ihrer Mutter glaubwürdig und verständlich wirkt, ist aber noch mehr der unfassbaren, ungeschminkten Performance von Laura Tonke in der Rolle der Andrea zu verdanken, die in nur wenigen Szenen mit einem beispiellosen psychologischen Feingefühl ohne Rückgriff auf Klischees die Dynamik von Sucht und Depression und die komplexe Co-Abhängigkeitsproblematik begreiflich macht und sich dabei überhaupt nichts schenkt. 

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„22 Bahnen“ von Mia Maariel Mayer (Credit: Constantin Film)

Das gesamte Ensemble ist bis in die Nebenrollen brillant besetzt, einschließlich „Die Zweiflers“-Matriarchin Eleanor Reissa als Schwimmbad-Bekanntschaft Ursula und nicht zuletzt Nachwuchstalent Zoë Baier (die gerade auch in „In die Sonne schauen“ zu sehen ist) als Ida, die im Laufe des Films ihre Schüchternheit ablegt – nach einem Selbstbehauptungs-Crashkurs, dessen Dringlichkeit den Spannungsbogen vorgibt: Sollte sich Tilda für ihre Karriere und zum Umzug nach Berlin entschließen, bleiben ihr nur sechs Wochen, um ihre Schwester „fit“ zu machen, damit sie es allein mit ihrer Mutter aufnehmen kann, die zugleich unaufhaltsam auf einen dramatischen Absturz zusteuert. Tildas Versuch, die Kontrolle zu behalten, kommt jedoch immer wieder der charismatische, verschlossene Viktor in die Quere, der zufällig am Beckenrand, an der Supermarktkasse, nach einer Party an ihrer Seite auftaucht, ihr nicht mehr aus dem Kopf geht und Erinnerungen an einen Tag wachruft, der ihre Leben auf tragische Weise miteinander verknüpft hat – Ereignisse, die schrittweise in Rückblenden ans Licht gebracht werden, bis in einer fesselnd intensiven Montagesequenz die Handlungsstränge mit epischer Wucht aufeinanderprallen. 

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„22 Bahnen“ von Mia Maariel Mayer (Credit: Constantin Film)

Unter der hochsommerlich flirrenden Bildoberfläche liegt die schwere Melancholie der Charaktere, deren Schmerz und Sehnsüchte sich in das Setting, Kostüm- und Produktionsdesign eingegraben zu haben scheinen und in jede Note des immersiven Scores von Dascha Dauenhauer („Islands“, „Berlin Alexanderplatz“), der mit rauschhafter, manchmal fast metaphysischer Energie Ravetracks, Bässe und Streicherklänge vermischt, alles miteinander verbindet, als wollte er das Versprechen „Es müsste immer Musik da sein“ des seelenverwandten Coming-of-Age-Meilensteins „Absolute Giganten“ einlösen. Die Stelle, an der die Platte springen müsste, ist der verrückt schöne Moment, in dem Tilda und Viktor nachts wortlos nebeneinander eine spärlich beleuchtete Straße entlanggehen, sich dabei nicht ansehen, ihre Körper berühren sich nicht ein einziges Mal, aber ihre Anziehungskraft ist so heftig zu spüren, dass sie einen regelrecht aus dem Sessel haut. Das Herz des Films schlägt in jeder gemeinsamen Szene von Luna Wedler und Jannis Niewöhner, die schon in „Je Suis Karl“ zusammen vor der Kamera standen. Die Musik und Atmosphäre verwandeln ihre unbestreitbare Chemie in pure Kinomagie, mit der die Regisseurin die schwerwiegenderen Themen ausbalanciert, ohne die existenziellen Konflikte ihrer Protagonistin aus den Augen zu verlieren. Am Ende ist es allein die Wahrscheinlichkeit dieser Lovestory, mit der niemand gerechnet hat, die „22 Bahnen“ zu einem herzzerreißenden Film umwerfender Wahrhaftigkeit macht, in den man sich auch dann verlieben kann, wenn man nicht zu den Millionen Fans der Romanvorlage gehören sollte.

Corinna Götz