Mitreißend optimistische und humorvolle Ode an das Leben, basierend auf Stephen Kings Novelle, die die außergewöhnliche Geschichte eines gewöhnlichen Mannes in drei Kapiteln rückwärts erzählt.
FAST FACTS:
• Dritte Stephen-King-Verfilmung von Horrorspezialist Mike Flanagan, der neben „Das Spiel“ (2017) und „Doctor Sleeps Erwachen“ (2019) u.a. fünf Grusel-Serien-Hits für Netflix realisierte (u.a. „Spuk in Bly Manor“, „Der Untergang des Hauses Usher“)
• Flanagans erste Regiearbeit, die nicht auf einer Horror-Geschichte basiert: Die Vorlage lieferte Kings Novelle „Chucks Leben“, die wie „Mr. Harrigans Telefon“ aus der Kurzgeschichtensammlung „Blutige Nachrichten“ aus dem Jahr 2020 stammt
• Umwerfend sympathisches Ensemble mit Flanagans Stamm-Cast, Chiwetel Ejiofor sowie Tom Hiddleston in der Titelrolle
• Überraschungsgewinner des Publikumspreises des Toronto International Film Festival 2024
CREDITS:
O-Titel: The Life of Chuck; Land/Jahr: USA 2024; Laufzeit: 110 Minuten; Drehbuch: Mike Flanagan; Regie: Mike Flanagan; Besetzung: Tom Hiddleston, Chiwetel Ejiofor, Mark Hamill, Karen Gillan, Matthew Lillard, Kate Siegel, Mia Sara, Jacob Tremblay, Benjamin Pajak; Verleih: Tobis; Start: 24. Juli 2025
REVIEW:
„Shouldn’t All the World Be Dancing“ heißt die letzte Nummer auf dem phänomenalen Album „Stonehenge“ von Richie Havens, von der man glatt annehmen könnte, dass sie Stephen King zu seiner lebensbejahenden, vielschichtigen Kurzgeschichte „Chucks Leben“ inspiriert hat: ein spontan auf der Bühne beim Woodstock-Festival entstandener Song, bei dem der legendäre Folk-Musiker die Gitarre bearbeitet wie ein Schlaginstrument, in dessen entwaffnend optimistischer Botschaft auch ein Gedicht des großen amerikanischen Schriftstellers Walt Whitman mitklingt. Dessen berühmtestes Werk, „Gesang von mir selbst“, in dem es unter anderem darum geht, dass die Verbundenheit von Mensch und Natur unser Dasein in jedem Moment bedeutungsvoll macht, enthält die denkwürdige Zeile „I contain multitudes“ („Ich enthalte Vielheiten“). Diese taucht nicht nur in „Chucks Leben“ wieder auf, sondern lieferte im Übrigen die Idee für einen Song von Kings Lieblingssänger Bob Dylan, der wiederum Richie Havens beeinflusste – und umgekehrt.
Egal, wie man die Dinge dreht und wendet: Am Ende ist alles miteinander verbunden, in der Popkultur, im Universum und in Stephen Kings Novelle, deren Schlüsselmomente zwei Tanzszenen sind, in denen sich der Titelheld seiner Leidenschaft hingibt und sogar den Moonwalk performt, einen Schritt also, bei dem der Tänzer rückwärts gleitet, die Füße aber ein Vorwärtsgehen simulieren. Genau dieser Richtung folgt die besondere, nicht-lineare Struktur der Story: „The Life of Chuck“ erzählt die außergewöhnliche Geschichte eines gewöhnlichen Mannes in drei Kapiteln rückwärts. Die Verfilmung ist ein Herzensprojekt für Mike Flanagan, es ist die dritte Adaption eines Stephen-King-Stoffs für den Drehbuchautor, Regisseur und Produzenten nach „Das Spiel“ und „Doctor Sleeps Erwachen“, eine Serienversion von „Carrie“ befindet sich in Vorbereitung. Es ist zugleich Flanagans erste Regiearbeit, die aus dem Genre-Rahmen herausfällt, die tonal an „Stand by Me“, „Die Verurteilten“ oder „The Green Mile“ erinnert. Die übersinnlichen Elemente bleiben im Hintergrund, bilden den roten, mysteriösen Faden, an denen die drei Akte des Drehbuchs lose aufgehängt sind. Diese werden außerdem von der Erzählerstimme von Nick Offerman zusammengehalten, der sich mit lakonischer Nüchternheit gleich mal als Sprecher aller zukünftigen Audiobook-Versionen von Stephen-King-Veröffentlichungen empfiehlt. Dabei ist „The Life of Chuck“ vollkommen frei von Zynismus. Es ist ein Film, der ununterbrochen zu lächeln scheint und mit weit ausgebreiteten Armen einen Group Hug! einfordert, um das Publikum mit einer Welt zu versöhnen, die dem Untergang geweiht ist, woran er fortwährend erinnert.
Die Erde wird von Bränden, Überschwemmungen, Erdbeben verwüstet, erfährt man gleich zu Beginn aus den Nachrichten, Deutschland wird von einem Vulkan verschluckt, Kalifornien versinkt im Meer, doch die Bewohner einer amerikanischen Kleinstadt tun mit geradezu stoischer Gelassenheit das, was sie immer tun. So auch der sympathische Lehrer Marty (Chiwetel Ejiofor), der weiterhin versucht, seine Schüler für die Botschaft von Walt Whitman statt für die Instant Messages auf ihren Smartphones zu begeistern, bevor das Internet zusammenbricht (woraufhin Horror-Ikone David Dastmalchian mit einem sehr komischen Cameo-Auftritt in der Elternsprechstunde den Verlust von Pornhub bedauert). Martys Ex-Frau Felicia (Karen Gillan) hält unterdessen als Krankenschwester die Stellung, allerdings bleiben die Patientenbetten größtenteils leer, da sich die meisten gerade für Selbstmord entscheiden. Während Marty und Felicia wieder zueinander finden, um gemeinsam auf das endgültige Ende zu warten, beschäftigt sie vor allem die Frage, wer dieser Charles „Chuck Krantz“ sein könnte, dessen Name und Foto (das freundliche Gesicht von Tom Hiddleston) überall auf Reklametafeln und in Werbespots auftaucht, begleitet von den Worten „39 großartige Jahre! Danke, Chuck!“ Bis schließlich der leise Verdacht aufkommt, dass es einen Zusammenhang zwischen dem rätselhaften Anzugträger und der drohenden Apokalypse geben könnte.
Der zweite Teil, der einige Zeit zuvor spielt, zeigt einen der bedeutungsvollsten Momente im Leben eben jenes Chuck Krantz, der eines Tages in der „typischen Rüstung eines Buchhalters“ in der Mittagspause durch eine Fußgängerzone schlendert, vor der Straßenmusikerin Taylor (die Drummerin The Pocket Queen) innehält und spontan die Buchhändlerin Janice (Annalise Basso) zum Tanzen auffordert, die gerade von ihrem Freund abserviert wurde und sich ebenfalls zufällig unter den Passanten befindet. In der ungefähr sechsminütigen verblüffenden Performance befreit Tom Hiddleston seinen inneren Fred Astaire und zugleich das Wesen seiner Figur – nicht etwa mit einem improvisierten Ausdruckstanz, sondern so, als ob er instinktiv einer Routine folgen würde, die er tief verinnerlicht hat, mit einer eleganten, leichtfüßigen Choreografie mit allen möglichen Standard-Moves und mitreißender Lebensfreude, in perfekter Einheit mit dem groovig-jazzigen Schlagzeugrhythmus. Die Antwort auf die Frage, wo der Held das alles gelernt hat, folgt prompt im dritten Akt, der den Titel trägt: „Ich enthalte Vielheiten“ und von Chucks Kindheit handelt: von seiner Großmutter Sarah (Mia Sara), die seine Liebe zum Tanzen weckt; vom „Twirlers & Spinners Dance Club“ an seiner High School; und von seinem Großvater Albie (Mark Hamill als Albert-Einstein-Wiedergänger), der seinen Enkel für den geborenen Mathematiker hält und außerdem ein düsteres Geheimnis auf dem Dachboden versteckt, das Chucks Neugier und die Vorahnung befeuert, dass hinter der verriegelten Tür der Schlüssel zu allem verborgen liegt.
Im letzten Teil, der eine Menge „Zurück in die Zukunft“-Vibes versprüht, führt das Drehbuch alle losen Fäden unter einem Dach zusammen und verwandelt sich in eine herzerwärmende Coming-of-Age-Story mit einem hinreißenden Benjamin Pajak (später Jacob Tremblay) in der Rolle des jüngeren Chuck Krantz, der als Teenager die Tanzfläche beim Schulball erobert wie Tom Hiddleston früher oder später die Einkaufsstraße. Die ohnehin filmisch anmutende Struktur von Stephen Kings Vorlage entfaltet auf der Leinwand ihre Magie, was vielleicht gar nicht so komplex oder raffiniert erscheint, wie man es erwarten würde, weil Mike Flanagan jeden Akt der Geschichte auf konventionelle Weise inszeniert. Dabei findet er stets die Balance findet zwischen Humor und Sentimentalität, mit Hilfe seines fabelhaften Casts, der selbst die kleinste Nebenrolle mit ansteckender Begeisterung und Feingefühl verkörpert. Der besondere Reiz liegt in den wiederkehrenden Figuren und Details, die dem Geschehen Sinn und Bedeutung verleihen, den augenzwinkernden Déjà-vus und -entendus – wie dem Gitarrenriff des 70er-Jahre-Dancefloorfillers „My Sharona“, das eine Umkehrung des Riffs „Gimme Some Lovin‘“ der Spencer Davis Group von 1967 ist, wie alle wissenschaftlichen und philosophischen Theorien, denen Chuck im Laufe der Zeit begegnet oder die dabei eine Rolle spielen. Letztlich werden die bedeutungsschweren Gedanken, die Menschen bewegen, die mit ihrem Ende oder dem der Welt konfrontiert werden, in dieser Wohlfühlgeschichte über das Sterben nonchalant von der Bildfläche gefegt, um Platz zu machen für Quickstepps, Drehungen und Wechselschritte – und die universelle Frage: Wenn man wüsste, dass das Leben endet, würde man dann nicht alles in Bewegung setzen, um in jedem Moment glücklich zu sein? Oder anders gesagt: Sollte nicht eigentlich die ganze Welt tanzen?
Corinna Götz