Während sich die Welt am Anfang der COVID-Pandemie abschottet, muss eine junge Frau den Tod ihrer Mutter bewältigen und in ihrer nordrheinwestfälischen Heimatstadt gegen festgefahrene Familienstrukturen und eine lähmende Bürokratie kämpfen.
FAST FACTS:
• Autofiktionales Spielfilmdebüt von Jacqueline Jansen, die für Regie, Drehbuch, Schnitt, Casting und Produktion verantwortlich zeichnet
• Weltpremiere beim 42. Filmfest München, zweifach prämiert mit dem Förderpreis Neues Deutsches Kino für Jacqueline Jansen (Produktion) und Magdalena Laubisch (Schauspiel); zudem ausgezeichnet mit dem Fipresci-Preis
• Magdalena Laubisch („Love Addicts“) gehört mit dieser und ihrer Hauptrolle in dem Thriller „Die Nichte des Polizisten“ zu den Shooting Stars beim Filmfest München und des Neuen Deutschen Kinos
• Die autodidaktische Filmemacherin Jacqueline Jansen wurde für ihren Dokumentarfilm „No Way Home“ von2019 bereits mit dem Deutschen Generationenfilmpreis ausgezeichnet
CREDITS:
Land/Jahr: Deutschland 2025; Länge: 98 Minuten; Drehbuch: Jacqueline Jansen ; Regie: Jacqueline Jansen; Besetzung: Magdalena Laubisch, Gerta Gormanns, Lola Klamroth, Suzanne Ziellenbach, Olga Prokot, Patrick Joswig, Marc Fischer, Petra Welteroth
REVIEW:
Bevor er beginnt, holt der Film noch einmal tief Luft: Zu hören ist lediglich ein langes, schweres Atmen, bevor der erste Blick auf die aus dem Schlaf erwachende Lore (Magdalena Laubisch) fällt. Dann zeigt die Kamera das Krankenbett im selben Raum und eine ältere Patientin, die einen letzten, tiefen Seufzer von sich gibt. An dem Tag, an dem die Welt zum Stillstand kommt, die ersten massiven Maßnahmen gegen die COVID-Pandemie in Kraft treten, stirbt Martha (Suzanne Ziellenbach), die Mutter der Protagonistin, in einem Hospiz im nordrheinwestfälischen Erkelenz mit 55 Jahren an Krebs. Nach dem ersten Schock verlässt die Tochter zögerlich das Krankenzimmer, wendet sich hilflos an die Nachtschwester, die das Ableben bestätigen soll und anordnet: „Du wartest bitte draußen“. Von da an steht Lore nicht nur im metaphorischen Sinn vor verschlossenen Türen. Allein mit ihrer Trauer und der Verantwortung für die Beisetzung versucht sie in einer Welt, die in vielerlei Hinsicht aus den Fugen gerät, Marthas letzten Wunsch, eine Seebestattung, zu erfüllen, stößt damit auf Widerstand in der Gemeinde und in ihrer Familie, die auf ein konventionelles Begräbnis und das Sechswochenamt bestehen – für Nicht-Katholiken: eine Gedenkfeier, die sechs Wochen nach dem Tod stattfindet und den Hinterbliebenen in der Gemeinschaft Trost, Halt und Orientierung bieten soll. In eben diesem Zeitraum begleitet der Film den Alltag der Hauptfigur, zeigt, wie sie sich immer mehr von sich selbst und anderen entfremdet, offenbart in jeder langen Einstellung das, was sie von ihrem Umfeld trennt. Der rheinische Dialekt und feste Glauben von „Omma“ Inge (Gerta Gormanns). Die Unerreichbarkeit ihrer abwesenden Schwester Sophie (Lola Klamroth), mit der sie hin und wieder am Handy spricht. Die geradezu ironische Distanz am langen Esszimmertisch der Trauerrednerin (Petra Welteroth), die die Verstorbene und Angehörige kennenlernen möchte, dabei aber auf Abstand besteht.
Informationen werden nur spärlich preisgegeben, man erfährt nicht mehr als das, was die jeweilige Situation erfordert, ein paar Andeutungen über Lores abgebrochenes Studium und ihre Lebenssituation. Die Inszenierung ist minimalistisch, zurückhaltend, fast dokumentarisch, radikal auf das Wesentliche beschränkt. Der Fokus liegt auf dem stillen Gesicht und reduzierten Spiel von Magdalena Laubisch, die einmal mehr ihr außerordentlichen Gespür für Nuancen beweist. Man fühlt, wie die Wut langsam und brodelnd in ihr aufsteigt, die Frustration über die Voreingenommenheit, Ignoranz und Ambivalenz ihrer Mitmenschen, die sie die meiste Zeit mit stoischer Erkelenzer Gelassenheit erträgt. Lore wirkt wie ein Ebenbild ihrer (alleinerziehenden) Mutter, die immer ihren eigenen Weg gegangen ist, mit ihrem Nachhaltigkeits- und Umweltbewusstsein und wohl auch mit dem Austritt aus der Kirche aneckte. Pflichtbewusst kümmert sie sich um die Oma, die verlangt, dass alles genau so gemacht wird, „wie es sich gehört und richtig ist“, und sogar eine selbstgetextete Traueranzeige missbilligt, ganz zu schweigen von dem riskanten Vorhaben, die Bestattungspflicht zu umgehen und trotzdem eine Gedenkfeier abzuhalten. Mitgefühl zeigt lediglich eine Freundin aus Kindheitstagen, Sarah (Olga Prokot), die Lore dabei hilft, den Mut zu finden, zu ihren Entscheidungen zu stehen und schließlich ihre eigene Identität wieder zu erlangen.
Aus der Entfernung betrachtet haben die außerordentlichen Umstände eine bisweilen absurde Komik. „Machen eigentlich alle nur noch, was sie wollen?“, schimpft Lore an einer Stelle, obwohl sie selbst die ganze Zeit gegen Regeln kämpft. Ausgerechnet der Pfarrer (Marc Fischer) der Gemeinde fällt in einem verstörenden Schlüsselmoment buchstäblich mit der Tür ins Haus, um Möbel abzuholen, die ihre Schwester hinter Lores Rücken gespendet hat, als wollte man ihr die Erinnerung rauben, an die sie sich klammert wie an jedes Kleidungsstück der Verstorbenen. Der Film wertet nicht oder verurteilt nicht, sucht vielmehr Verständnis und Versöhnung, löst in der zweiten Hälfte die strenge Erzählweise subtil auf, schenkt der Protagonistin Raum und Luft zum Atmen und lässt sie am Ende selbst ihren Frieden finden: in einer vierminütigen, raffiniert tiefgründigen letzten Einstellung, in der Lore ganz bei sich ist und in der sich alles spiegelt – nicht zuletzt die persönliche Geschichte der Filmemacherin. Nachdem Jacqueline Jansen zuvor in der Dokumentation „No Way Home“ bereits das Leben ihres Vaters mit der Kamera begleitet hat, gab der Tod ihrer Mutter während der Corona-Pandemie den Anstoß für ihr Spielfilmdebüt. Die Autodidaktin realisierte „Sechswochenamt“ allein mit Unterstützung von Unternehmen ihrer Heimatregion und ihrer eigens gegründeten Produktionsfirma. Dass nun beim 42. Filmfest München sowohl ihre Hauptdarstellerin als auch ihre eigene beachtliche Leistung als Produzentin mit dem Förderpreis Neues Deutsches Kino ausgezeichnet wurden, ist ein würdevoller und vielleicht auch abschließender Verdienst.
Corinna Götz