Intensives Drama über ein zwölfjähriges Mädchen, das im Jahr 1962 vor Gericht darum kämpft, dass man ihr glaubt, dass ihr Vater sie immer und immer wieder missbraucht und misshandelt hat.
FAST FACTS:
• Auf dem Filmfest München umjubeltes Spielfilmregiedebüt von Christina Tournatzés
• Das Drehbuch von Yvonne Görlach basiert auf einem wahren Gerichtsprozess
• Sensationelles Schauspieldebüt von Elise Krieps, die Tochter von Vicky Krieps; an ihrer Seite begeistern Rainer Bock und Imogen Kogge
• Mehr als 13 Jahre wurde an dem Filmstoff gearbeitet
• Produziert von Melanie Blocksdorf und Jamila Wenske für Achtung Panda!
• Zwei Förderpreise Neues Deutsches Kino: für die beste Regie und für das beste Drehbuch
CREDITS:
Land / Jahr: Deutschland 2025; Laufzeit: 105 Minuten; Regie: Christina Tournatzés; Drehbuch: Yvonne Görlach, Besetzung: Elise Krieps, Rainer Bock, Imogen Kogge, Torben Liebrecht, Katharina Schüttler; Verleih: eksystent Filmverleih; Start: 4. Oktober 2025
REVIEW:
Ich bin Karla Ebel, zwölf Jahre alt, und ich möchte Anzeige erstatten. Es sind die ersten Worte, die man von der Titelfigur hört. Ganz nüchtern. Mehr als fünf Minuten läuft der Film bereits, als das Mädchen ein Polizeirevier betritt und darauf besteht, mit einem Richter sprechen zu wollen. Schnell ist klar, worum es geht, dass Karla von ihrem Vater misshandelt und missbraucht wurde, so oft, dass sie nicht mehr sagen könnte, wie oft und seit wann. Aber im Grunde schweigt sie, will keine weiteren Angaben machen. Sie will nur, dass man ihr glaubt. Darum wird es gehen in „Karla“, dem aufsehenerregenden Regiedebüt von Christina Tournatzés, eine Produktion von Melanie Blocksdorf und Jamila Wenske für Achtung Panda!, deren Drehbuch von Yvonne Görlach auf einer wahren Geschichte aus dem Jahr 1962 beruht.
Um die Wahrheit und nichts als die Wahrheit und was die Wahrheit für die Würde eines Menschen bedeutet, für sein Selbstwertgefühl, für den Respekt vor sich selbst. Ein individuelles Fallbeispiel wird in den Fokus gerückt, aber stets werden wesentliche Dinge in einer Tiefe und Aufrichtigkeit behandelt, die den Fall zu wesentlich mehr machen als ein historisches Stück, zu mehr machen als nur ein behutsames schauspielerisches Duett von Elise Krieps als Karla und Rainer Bock als Richter Lamy, der sich im Jahr 17 nach dem Dritten Reich am Ende seiner Laufbahn befindet, aber vom Ernst dieser Zwölfjährigen zutiefst angerührt wird, die eine Kindheit erlebt hat, die man seinem schlimmsten Feind nicht wünscht. „She holds the hand that holds her down“, haben Pearl Jam einmal gesungen in „Daughter“. „Karla“ ist der Film dazu.
Die Gespräche von Mädchen und Richter, ihre Beziehung und Einverständnis bilden den Kern des Films, dem man vom ersten Moment an mit großer Aufmerksamkeit folgt, weil die 33-jährige Regisseurin einen so reifen und wachen Blick hat, mit feinem Gespür stille und genaue Kompositionen findet, die nie die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, den Atem der frühen Sechzigerjahre atmen. Gemeinsam mit ihrem tollen Kameramann Florian Emmerich, der unter anderem bei drei „Ostwind“-Filmen Gespür fürs große Kinobild gezeigt hat, hier aber mit dokumentarischer Zurückhaltung ans Werk geht, gelingt ihr aber ein sehr moderner Film mit ungewöhnlichen Anordnungen und einem klugen Spiel mit Schärfen und Unschärfen, Blicken in Spiegel oder durch Fenster. Tief lassen sie dabei blicken in die Seelen der Figuren, von denen der Film erzählt, aber auch in die Themen, die verhandelt werden.
Auf jede Geste gibt man Acht, weil jede Geste wichtig ist, etwas zu erzählen hat. Wenn der Richter dem Mädchen mitfühlend das Haar aus dem Gesicht streichen will, als sie sich übergeben muss, aber innehält, weil er erkennt, dass dieser Ausdruck von Empathie auch ganz anders interpretiert werden könnte – weil man eben lebt in einer Welt, in der Mädchen „Adolfine“ getauft wurden, weil man dem Führer ein Kind schenken wollte, oder eben „Karla“, weil der Vater Karl heißt. Wenn die Assistentin des Richters, gespielt von der großartigen Imogen Kogge, ein Amulett abnimmt, um ihrerseits ihre Geschichte erzählen zu können. Natürlich geht es vordergründig um Zivilcourage und Selbstbestimmung, und das ist auch gut so, aber dahinter tun sich Abgründe auf, die mehr zu erzählen haben als nur von einem gesellschaftlichen Klima, das Missbrauch schützt: Vor den Augen des Zuschauers entsteht das Psychogramm eines Landes, das immer noch unter dem Schock des Großen Krieges steht und sich nur schwer aus dieser Umklammerung lösen kann.
„Karla“ kommt ohne Score aus. Zweimal erklingen Lieder. Einmal hört Karla im Mädchenheim mit einem anderen Mädchen, das sich prostituiert hat, unter der Decke im Radio Conny Froboess‘ Version von „Diana“, vertonte Unbeschwertheit mit einem Unterton der Verzweiflung. Ein andermal legt der Richter einen Chanson von Josephine Baker auf, der im genialen Schnitt von Isabel Meier („Lara“) eine Assoziationskette in Rückblenden auslöst, wie überhaupt immer wieder aufblitzende Inserts den Blick werfen auf Vergangenes, insbesondere ein Feld voller Mohnblumen, das alsbald eine besondere Bedeutung annimmt, das Summen von Fliegen, das einen Mahlstrom an Erinnerungen triggert, ebenso wie eine Stimmgabel, die der Richter dem Mädchen gibt.
Wenn es Dinge gibt, die sie nicht erzählen kann, soll sie die Gabel anschlagen, dann wüsste er Bescheid. „Karla“ muss nichts zeigen, und doch sieht man alles, versteht man alles, umhüllt einen dieser Film mit einer Atmosphäre, die zum Greifen erscheint, und mündet in eine Gerichtsverhandlung, deren Wirkung vergleichbar ist mit „Anatomie eines Falls“ oder „Saint-Omer“. Man brauche nur eine Insel im großen weiten Meer, man brauche nur einen Menschen, den aber sehr, wird einmal die Dichterin Mascha Kaléko zitiert, Und man braucht solche Filme im Kino, um im Wahnsinn des Jahres 2025 daran erinnert zu werden, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.
Thomas Schultze