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REVIEW KINO: „Der geheimnisvolle Blick des Flamingos“


Ungewöhnliches, berührendes Coming‑of‑Age-Drama aus Chile, das vor dem Hintergrund des AIDS‑Ausbruchs in den frühen 80er-Jahren spielt: Eine Elfjährige kämpft in einer isolierten Bergarbeitergemeinde gegen die Stigmatisierung ihrer queeren Familie.

CREDITS: 
O-Titel: La misteriosa mirada del flamenco; Land/Jahr: Chile/Frankreich/Belgien/Spanien/ Deutschland 2025; Laufzeit: 104 Minuten; Drehbuch: Diego Céspedes; Regie: Diego Céspedes; Besetzung: Tamara Cortés, Matías Catalán, Paula Dinamarca, Claudia Cabezas, Luis Dubbó, Pedro Muñoz, Vincente Caballero; Verleih: Filmreederei; Start: 4. Dezember 2025

REVIEW:
Ein queerer Coming-of-Age-Western mit der Zärtlichkeit von Wong Kar-Wais „Happy Together“ und der Theatralik einer griechischen Tragödie, bei dem Pablo Almodóvars „Strange Life“, Dennis Hoppers „The Last Movie“ und das Musical „Priscilla – Königin der Wüste“ gleichermaßen Pate gestanden haben könnten: „Der geheimnisvolle Blick des Flamingos“ ist eine mal wilde, mal melodramatische Neuinterpretation der Medusa-Legende, angesiedelt in den frühen 1980er-Jahren in einer kargen, staubigen Spaghetti-Western-Landschaft vor strahlend blauem Himmel, getragen von der Melancholie des Evergreens „Aquellos Ojos Verdes“, dem Wunsch, sich an keine Standards anzupassen und dem menschlichen Bedürfnis, gesehen zu werden. Die fantastische Geschichte spielt in einer nahezu verlassenen Bergbaugemeinde im Norden Chiles, in der fast ausschließlich Männer leben, abgesehen von der elfjährigen Lidia (Tamara Cortés), die von einer Transgender-Kommune adoptiert wurde. Als sich eine tödliche Seuche ausbreitet, wird ihre Wahlfamilie schuldlos schuldig, bestraft und verflucht für nichts anders als das Verbrechen der Liebe: Es kursiert das Gerücht, dass der leidenschaftliche Blick einer queeren Person zur Ansteckung führen könnte.

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„Der geheimnisvolle Blick des Flamingos“ (Credit: Weydemann Bros.)

Der Verweis auf die AIDS-Epidemie ist offensichtlich, ohne dass das Wort je ausgesprochen werden müsste. Der Ausbruch der Krankheit hat ein Klima der Angst in der geisterstadtähnlichen Gemeinde geschaffen, in der es für Männer zum Zeitvertreib nur Sex oder Gewalt gibt, meist hängt beides zusammen und wird von Scham und Selbstverachtung begleitet. Die einzige Vergnügungsstätte in dieser paradoxen Welt ist das „Alaska House“, das von der starken Matriarchin Mama Boa (Paula Dinamarca) zugleich als Zufluchtsort für eine exzentrische Gruppe von LGBT+-Rebellen betrieben wird, die auf einer Kabarettbühne mitten in der Pampa quasi den griechischen Chor bilden, der das Geschehen kommentiert, ein göttliches Ensemble, in dem alle Tier- statt Künstlernamen tragen, Eagle, Lioness, Star, Piranha und nicht zuletzt Flamingo (Matías Catalán) – die Schönste von allen mit den längsten Beinen, auf die es die meisten im Dorf abgesehen haben, die tagsüber verspottet, nachts zum Objekt der Begierde wird. Die queere Truppe weiß sich durchaus zu wehren gegen den Aberglauben, die Bigotterie und toxische Männlichkeit der Nachbarn: Zu Beginn zwingt Flamingo einen Jungen gewaltsam dazu, ihr in die Augen zu sehen, nachdem er Lidia beleidigt hat – jede der Trans-Frauen würde für die Teenagerin töten, als wäre sie ihr eigenes Fleisch und Blut. Ihre Frivolität ist so hilfreich wie verhängnisvoll: Als er erkrankt und verstoßen wird, schlagen die Gefühle eines verliebten Bergmanns (Pedro Muñoz) für Flamingo mit schockierenden Konsequenzen in puren Hass um. Infolgedessen kommt es unter anderem zu einem Überfall auf das „Alaska-Haus“ durch die übrigen Kameraden, die die körperliche Selbstbestimmung der Drag Queens kontrollieren wollen. Nach einer skurrilen, hitzigen Auseinandersetzung sind manche der Männer selbst blind vor Liebe – eine Wendung, mit der der Film weiter in ein symbolisches, surrealistisches, hin und wieder ambivalentes Terrain abgleitet, in dem die Frauen die absurden gesellschaftlichen Regeln stets gleichzeitig akzeptieren und unterwandern, am Ende sogar Erlösung darin findet.

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„Der geheimnisvolle Blick des Flamingos“ (Credit: Weydemann Bros.)

All das versucht Teenagerin Lidia zu verstehen, die sich gegenüber ihrer Familie verpflichtet fühlt Rache zu üben, unterstützt von ihrem Freund Julio (Vicente Caballero), der ihr dabei hilft, die Mythen und Vorurteile zu entlarven und die Wahrheit über die Krankheit herauszufinden. Der Film geht weit über die Coming-of-Age- und AIDS-Thematik hinaus. Er beleuchtet die Gefahr der Unwissenheit, durch die die Menschen auseinandergetrieben, die Gesellschaft gespalten wird. Er ist in vielerlei Hinsicht hochaktuell, ein starkes politisches und persönliches Statement, inspiriert von echten Personen und Erfahrungen des Filmemachers, der trotz des düsteren Hintergrunds, den er für sein Debüt wählte, der strahlenden Seite des Queerseins Respekt zollt, der Tatsache, dass alle Dissidenten und Andersdenkenden letztlich wie alle anderen lieben und geliebt werden wollen und schon immer ihre eigenen Familien gefunden haben, um sich gegenseitig in Schutz zu nehmen. Dabei nimmt Diego Céspedes die unschuldigste Perspektive ein, betrachtet das Drama aus Lidias, aus Kinderaugen und begründet damit den magischen Realismus seiner Inszenierung und deren ständige tonale Wechsel. Der Film sucht wie seine Protagonistin nach seiner Identität, er passt seine äußere Erscheinung an Lidias Gefühlswelt an, zwängt sich in ein quadratisches 4:3-Bildformat, das das beengte Umfeld noch mehr verdichtet, verengt selbst die Weite der chilenischen Wüste. Die eigenwillige Schönheit der Geschichte entwächst der Widerstandskraft der Figuren, es ist eine erarbeitete Schönheit, die keine Perfektion anstrebt, die sich immer ein wenig grotesk, aber zutiefst ergreifend anfühlt. Der Plot nimmt einen steinigen und holprigen Weg, schlängelt sich durch Wut und Qual, Freude und Hoffnung. Die stilistische Extravaganz übertönt nie das, was Céspedes am wichtigsten ist: die wahrhaftigen Emotionen in den Gesichtern der Schauspieler (und Laiendarsteller) und der wachsame, scharfsinnige, oft von Traurigkeit überschattete Blick des Mädchens, das sich der brutalen Realität mehr und mehr bewusst wird. Das Herz des Films, der keinen Zweifel an seinem humanistischen Anliegen lässt, schlägt heftig für seine jugendliche Heldin, die er so sehr davon überzeugen möchte, dass Liebe in jeglicher Form – romantisch, platonisch, mütterlich – die einzige Rettung in Chaos und Schmerz ist und im Gegenzug nichts weiter verlangt, als dass man einander mit offenen Augen begegnet.

Corinna Götz