Ein ungewöhnlich entschleunigter Roadtrip eines scheinbar zerstrittenen erwachsenen Geschwisterpaares steht bei dem schwedischen Regiedebüt von Kim Ekberg und Sawandi Groskind im Mittelpunkt. Das Werk läuft auf den Nordischen Filmtagen.
FAST FACTS
• Das schwedische Regiedebüt „XXL“ feierte im Januar Weltpremiere in Göteborg
• Der Roadtrip eines Geschwisterpaares nach Helsinki ist eine interessante Mischung aus Fiktion, Doku und Bildexperimenten
• Deutliche Stärken sind die Atmosphäre, die grundsympathischen Hauptdarsteller und die 35mm-Bilder
CREDITS:
Produktionsfirma: MDEMC; Produzent:innen: Elisabeth Marjanovic Cronvall, Kim Ekberg, Danai Anagnostou; Regie & Drehbuch: Kim Ekberg, Sawandi Groskind; Cast; Astrid Drettner, Georgios Giokotos; Weltpremiere: 27.1.24 Göteborg Film Festival; Deutsche Premiere: Nordische Filmtage 7.11.24
REVIEW:
Der nicht einmal 80-minütige schwedische Film „XXL“ ist ein Roadtrip über ein ungleiches Geschwisterpaar, das mit der Fähre einen Ausflug nach Finnland macht – und ist es gleichzeitig doch nicht. Das grundsympathische Debüt des jungen Regieduos Kim Ekberg und Sawandi Groskind, das seine Weltpremiere Anfang des Jahres auf dem Göteborg Filmfestival feierte und jetzt auf den Nordischen Filmtagen in Lübeck zu sehen ist, verweigert sich fast sämtlichen Konventionen des Genres.
„XXL“ besitzt keine klassische Dramaturgie, bei der sich das zerstrittene erwachsene Geschwisterpaar über einschneidende Erlebnisse auf dieser Reise wieder annähert. Viel mehr interessiert den Film fast alles mehr, was um diesen Konflikt herum passiert. In der ersten richtigen Szene sieht man nicht die beiden Geschwister Magdalena (Astrid Drettner) oder Enzo (Georgios Giokotos), sondern einen Arbeitskollegen Enzos, wie er sich in der Betriebsküche in einer ruhigen Einstellung einen Kaffee aufkocht und sich was zu essen macht.
Zwar erzählt dann der sanfte schnauzbärtige Enzo in vertrauter Kollegenrunde seiner Werkstatt, dass es da mal Streitigkeiten zwischen ihm und seiner Schwester gegeben habe und dass er jetzt hoffe, dass dieser Konflikt wieder ausgeräumt werde. Aber der angedeutete Konflikt spielt für den Film dann eigentlich keine weitere Rolle. Schon für die Überfahrt kaufen sich die beiden Geschwister Wodka und Chips und sprechen sich aus, während die Kamera fast mehr am Treiben auf der Fähre interessiert ist. „XXL“ hat fast einen genauso großen dokumentarischen Anteil, wenn die Atmosphäre an Bord aus der Hüfte geschossen am oder unter Deck mitgefilmt wird.
Magdalena will nach Finnland für ein Vorsprechen. Dafür checkt sie, die eigentlich in einem Lampengeschäft in Schweden arbeitet, in Helsinki in einem Hotel mit Bruder Enzo ein. In einem der spannendsten Dialoge des Films reflektieren die beiden über Kunst und die Frage, ob Künstler überhaupt nur Kunst erschaffen, weil sie die alltägliche Schönheit nicht wahrnehmen können, worin sich sympathisch selbstkritisch ein wenig das Konzept dieses Films spiegelt. „XXL“ zeigt nicht nur, was die Geschwister auf der Reise lesen, sondern liest dem Zuschauer die jeweiligen Bücher vor. Einmal sehen die beiden auf dem Hotelzimmer minutenlang William Wylers Schwarzweiß-Klassiker „Die Erbin“ auf einem kleineren Fernseher.
Der Film, der mit seinen teils experimentellen Bildcollagen mit mehr als nur einem Zeh sanft im Kunstgewerbe hängt, lebt von seiner entschleunigten Erzählweise, der Mischung aus Schauspiel und Dokumentation und deutlich mehr von seinen winterlichen 35mm-Bilder-Atmosphären als der Narration, auch wenn das Wochenende mit Freitag, Samstag und Sonntag in Kapitel unterteilt ist. Man schaut dem gut reduziert spielenden Geschwisterpaar gerne bei der Reise zu, von der es aber gerne noch mehr im Film hätte geben dürfen.
Michael Müller