Überragendes Porträt einer Sängerin, die nach 20 Jahren zurückkehrt in die kleine Gemeinde, wo sie einstmals ihren Freunden den Rücken gekehrt hatte, um Karriere in London zu machen.
FAST FACTS:
• Zweite Regiearbeit von Evi Romen nach „Hochwald“
• Sensationell in der Hauptrolle: Theaterstar Andrea Wenzl
• Auffällig starke Musikauswahl
• Wieder produziert von Amour Fou: Bady Minck und Alexander Dumreicher-Invanceanu
• Hinter der Kamera wieder dabei: Kameramann Martin Gschlacht, Kostümbildnerin Cinzia Cioffi, Editorin Karina Ressler
• Weltpremiere auf der Diagonale 2025
CREDITS:
Land / Jahr: Österreich, Belgien 2025; Laufzeit: 90 Minuten; Regie, Drehbuch: Evi Romen; Besetzung: Andrea Wenzl, Simon Frühwirth, Michael Pink, Michaela Rosen, Oliver Welter, Alicia Edelweiss, Simone Fuith, Robert Stadlober; Ö-Verleih: Polyfilm; Start: 13. Juni 2025
REVIEW:
Die Menschen in der zweiten Regiearbeit der lange Zeit vor allem als vorzügliche Editorin bekannten Evi Romen fühlen so sehr, dass Musik durch ihre Adern zu fließen scheint, Musik ihre zweite Natur geworden ist, ihren Ausdruck findet darin, wie sie reden, wie sie sich kleiden, woran sie denken und wie sie durchs Leben gehen. Entsprechend ist „Happyland“ wie ein Song, oder besser: wie die Erinnerung an all die Lieder und Texte, die einem in seinem Leben etwas bedeutet haben. Dem ordnet sich alles unter in diesem Porträt einer Sängerin, die nach 20 Jahren zurückkehrt in die kleine Gemeinde in Niederösterreich, einige Kilometer von Wien entfernt und inmitten einer Biegung der Donau gelegen, wo sie einstmals ihren Freunden den Rücken gekehrt hatte, um Karriere in London zu machen. Vordergründig folgt Helen dem Ruf ihrer Mutter, für die sie vorübergehend die Leitung des heruntergewirtschafteten Sportzentrums Happyland übernehmen soll, während diese eine überfällige Kur antritt. Die Wahrheit will, dass der Traum vom Ruhm ausgeträumt ist. Helen trifft nicht mehr den Nerv der Zeit. „Relax Baby, Be Cool“ heißt ihr neuer Song, ein propulsives Stück Synth-Punk, eine Hommage an das eingängige Reggaepop-Pastiche von Serge Gainsbourg von 1979 aus dem Album „Aux Armes Et Cætera“. Die Plattenfirma zuckt die Achseln. Helen weiß, dass es vorbei ist. „Um uns herum fließt Blut, in der Leichenhalle herrscht Gedränge“, heißt es übersetzt bei Gainsbourg. Passt ganz gut zu dem, was passieren wird.
Längst könnte man von einem eigenen Genre sprechen. Der Heimkehrer-Film, der immer auch eine Lebensbeichte ist, ein Confessional, ohne dass man danach drei Rosenkränze sprechen muss. Vernarbt geglaubte Wunden werden aufgerissen, verdrängte Dämonen wollen konfrontiert werden, allerhand kommt da zum Vorschein, das man aus gutem Grund verdrängt hat. Man muss sich stellen, seiner selbst. Keine Atempause, Tabula Rasa wird gemacht. Da ist „Happyland“ nicht anders als all die anderen Filme davor, die sich für diese erzählerische Struktur entschieden haben, um der Wahrheit ihrer Figuren auf die Spur zu kommen. Und doch ist „Happyland“ wie kein Film, den man jemals davor gesehen hat. Weil er so ungemein spezifisch ist, diese wurzellose Frau in seinem Mittelpunkt so schonungslos zeigt und schonungslos liebevoll zeichnet, mit ganzem Herzen. Sie sieht aus wie ein Rockstar, als sie wieder zurück ist in Kritzendorf, ein 2616 Seelen zählender Ort in der Stadtgemeinde Klosterneuburg, mit einer Frisur, die an Brody Dalle in ihrer brünetten Phase erinnert, und unglaublich lässigen Klamotten (Kostümbild: Cinzia Cioffi), mit denen sie auch in der Großstadt auffallen würde, hier aber irgendwie gut hineinpasst in diesen kleinen Zirkel von Außenseitern, zu dem sie einst gezählt hatte, und der sich reserviert zeigt, als sie wieder in der Tür steht.
„Diluted Memories“, heißt eines von Helens Soloalben – man sieht das Cover einmal ganz kurz, als Helen es unterzeichnen soll. Um „verwässerte Erinnerungen“ geht es auch in „Happyland“, eine Art Abenteuerreise in die Vergangenheit, die die Hauptfigur antreten muss, um in der Gegenwart ankommen zu können. In einer frühen Szene sieht man sie allein am Ufer der Donau, ein weißes Pferd neben sich, und man muss an ein Album von Nico denken, „Desertshore“ von 1970, das ein ähnliches Szenario zeigt, nur dass noch ein kleiner Junge mit dabei ist. Auch das ein Fingerzeig in diesem Meer an musikalischen Verweisen, manche ganz offensichtlich wie die vielen Konzertposter mit Nirvana, Jesus Lizard oder Fugazi an den Wänden oder dem einmal ins Bild gerückten Sonic-Youth-Album „Evol“, das mit dem Schwarzweißfoto von Lung Leg aus dem Richard-Kern-Film „Submit to Me“. Andere sind quecksilbriger, wenn Helen einfach nur Textzeilen aus Liedern zitiert, die ihr etwas bedeuten und deshalb wahnsinnig viel über sie erzählen: „Passa la vita come una senorita“ aus dem Song „Ratafia“ von Paolo Conte beispielsweise. Oder „The most tender place in my heart is for strangers” aus dem Song „Hold On, Hold On“ von Neko Case („In the end, I was the mean girl“ heißt es in einer späteren Zeile – passt ebenfalls). Oder „I’m crazy for your strawberry lips” – ein Verweis auf das auf Deutsch gesungene „Erdbeermund“ von Franz Ferdinand, das wiederum Klaus Kinskis Autobiographie referenziert. Oder anders gesagt: Man kann sich gut verlieren in diesem Kaninchenloch, in dem jeder Satz, jede Geste, jeder Blick Bedeutung hat und etwas ausdrückt über diese schwierige Frau, die im Mittelpunkt steht und am Schluss eine erschütternde Wahrheit über die Männer in ihrem Leben erfährt, die ihr den Boden unter Füßen wegzieht.
Man kann nur vermuten, wie persönlich „Happyland“ ist. Es spielt auch keine Rolle, weil der Film als reine Fiktion kein bisschen weniger echt wirkt, gelebt und gespürt. Das ist in nicht geringem Maße der furchtlosen Hauptdarstellerin zu verdanken: Theaterstar Andrea Wenzl lässt sich mit Haut und Haar verschlingen von ihrer Figur, die jeglichen Halt im Leben verloren hat, ein müde gewordenes Wild Child, bei dem man an Anita Pallenberg oder Lydia Lunch denken muss – ein Leben, das kein schöner Ort ist, kein Happyland, eine Ansammlung verpasster Chancen und weggeworfener Gelegenheiten. „Ohne Drogen ist alles irgendwie langweilig“, sagt eine Figur einmal. Wieder zurück zu Hause sieht sich Helen eine alte, flirrende VHS mit einem Auftritt ihrer Band von damals an: „Du bist schon tot, bevor du lebst“, heißt es in dem Song, der mit ganzer Lebenslust in einem kleinen Club gespielt wird (eingespielt von der österreichischen Neo-Grunge-Band The Leftovers). Überschwang, Energie, verliebte Blicke: Man muss kein Raketenwissenschaftler sein, um zu erkennen, dass es noch offene Rechnungen gibt, Abgründe auf einen warten. Während Helen sich Schritt um Schritt wieder ihrem einstigen Bandkollegen Tom, gespielt von Michael Pink, den man sich auch gut in einem Film von Jarmusch oder Kaurismäki vorstellen könnte, zu nähern versucht, bandelt sie mit dem hübschen und wortkargen Joe an, gespielt von Simon Frühwirth, der im Happyland als Kletterlehrer anheuern will und Pferde züchtet, die ihm den Weg in die große Welt ebnen sollen.
Donau ist der Name von Helens alter Band. Überhaupt spielt der große europäische Strom eine wichtige Rolle. Immer wieder kehren die Figuren zurück an das Wasser. Ein ehemaliges Bandmitglied Helens soll in dem Fluss ertrunken sein, erfährt sie, was neue bittere Erinnerungen freisetzt. Auch das Finale wird der Donau gehören, diese Lebenslinie, die auch den Tod bringen kann. Bis dahin wurde man Zeuge einer denkwürdigen Szene nach der anderen: der Squaredance bei einem Fest, ein stimmungsvoller Auftritt der eigenwilligen Freakfolk-Künstlerin Alicia Edelweiss, die Toms Tochter Janis („Wie Joplin!“) spielt, ein kathartischer Moment zu den Klängen des italienischen Schmachtfetzens „Tornéro“ von I Santo California. Bildgestalter Martin Gschlacht hält das fest mit Bildern, die sich einbrennen, als wäre seine Kamera süchtig nach dem Gesicht von Andrea Wenzl – ein Gesicht, das jede Gefühlsregung ein Erdbeben sein lässt in diesem Porträt einer Gruppe von Menschen, die immer darauf vertraut haben, dass der Rock’n’Roll seine Versprechen halten wird, man immer jung sein kann – und dann doch vom Leben eingeholt wurden. „Compared to some, I’ve been around / But I really tried so hard”, singt Helen. Ob sie am Schluss ihren Frieden schließen kann, wird nicht verraten. Aber „Happyland“ hat das beste letzte Bild auf einem Schiffkutter seit „Sweet Movie“ von Dusan Makavejev. Und das bedeutet die Welt.
Thomas Schultze