Herausragende True-Crime-Miniserie in vier Teilen von Regisseur Stefan Krohmer.

FAST FACTS:
• Drehbuch von Robert Hummel und Martina Mouchot, basierend auf dem Spiegel-Sachbuch-Bestseller „SOKO Erle“ um einen ähnlich gelagerten realen Frauenmord und dessen schwierige Aufklärung
• Tolles Ensemble um Nina Kunzendorf und Tilman Strauß
• Produziert von Nils Dünker für Lailaps Films im Auftrag von SWR / ARD; ausführende Produzentin: Carolin Daube
• Premiere beim Filmfest Hamburg 2024
CREDITS:
Land/Jahr: Deutschland 2024; Laufzeit: 4 x 45 Minuten; Drehbuch: Robert Hummel, Martina Mouchot; Regie: Stefan Krohmer; Besetzung: Nina Kunzendorf, Tilman Strauß, Aliki Hirsch, Božidar Kocevski, Atrin Haghdoust, David Richter, Liliane Amuat, Florian Hertweck, Markus Krojer, Katja Bürkle; Sender/Plattform: ARD; Sendetermin: ab 7.2. in der ARD Mediathek, Ausstrahlung aller 4 Teile als abendfüllendes Format am 15. Februar 2025
REVIEW:
Viertausend Spuren verfolgten im Jahr 2017 zeitweise vierzig Ermittler in einer südbadischen Kleinstadt, um nach monatelanger Fahndung einen mehrfachen Frauenmörder zu fassen. Als ehemaliger Polizist dokumentierte Walter Roth die aufwändige Tätersuche 2020 in dem Sachbuch-Bestseller „SOKO Erle“, auf dem das Drehbuch von Robert Hummel und Martina Mouchot lose basiert. Das erfahrene Autorenduo lieferte die Vorlage für eine außergewöhnliche True-Crime-Miniserie unter der Regie von Stefan Krohmer, Spezialist für unkonventionelle und hintergründige TV-Krimis, der ohne Einsatz der Genre-tpyischen Mord-und-Totschlag-Muster, Schusswaffen, Blaulicht und Melodramatik die akribische Polizeiarbeit in den Fokus stellt. Am Anfang dieses „Police Procedural“ mit Lokalkolorit steht eine Sequenz, die noch mehr ins „Aktenzeichen XY“- als ins „Tatort“-Format passen könnte: Stefanie Berghoff (Lara Kimpell), 27 Jahre alt, kinderlos, aus geordneten Verhältnissen, Angestellte einer Winzergenossenschaft, bricht an einem Sonntagnachmittag zum Joggen auf. Sie verabschiedet sich im beschaulichen, ländlich-weinbergigen Idyll im Neubau-Einfamilienhaus von ihrem Mann Tobias (David Richter), die Kamera lenkt den Zuschauerblick gezielt auf Details, die später relevant werden könnten – die pinkfarbenen Turnschuhe, das Handy, die Eisenstange auf dem Garagenboden, jeden einzelnen Zeugen, dem die Joggerin an verschiedenen Punkten ihrer Laufstrecke auffällt, bevor sie in den Wald einbiegt und nicht zurückkehrt.

Ihren Freunden und Bekannten sind diese Indizien herzlich egal, sie suchen am Abend und nächsten Morgen nach der jungen Frau – hier merkt man gleich, wenn jemand verschwindet, lassen Stimmen aus der intakten Dorfgemeinschaft verlauten, zu der auch Kommissar Thomas Riedle (Theaterstar Tilman Strauß, zuletzt KTU-Leiter des Dortmunder „Tatort“-Teams) gehört. Gemeinsam mit seiner neuen Vorgesetzten, Kriminaloberrätin Barbara Kramer (Nina Kunzendorf), wird er die Ermittlungen leiten und koordinieren, die Freiwilligen um den Ehemann und Vater (Matthias Kupfer) des Opfers daran hindern, Spuren zu zertrampeln, mit Vermutungen, vielen Hypothesen und wenig Resultaten durch den Fall führen. Die Polizei tut, was getan werden muss, stellt die Fragen, die gestellt werden müssen, sammelt Dutzende von Zeugenaussagen, die in keiner Weise eindeutig sind, bis drei Tage später die Leiche gefunden wird. Zu diesem Zeitpunkt ist Stefanie Berghoff bereits seit 72 Stunden durch Gewaltanwendung tot, die Tatwaffe unbekannt, die Spurenlage dünn. Die Truppe wird zur „SOKO Sonntag“ aufgestockt, die sich provisorisch einrichtet und von Anwohnern unermüdlich mit Selbstgebackenem versorgt wird. Fast minutiös wird die Sisyphus-Arbeit am und um den Tatort herum beleuchtet, die Kriminaltechnik, Methodik, Logistik, „nichts ist zu klein, um nicht gedacht zu werden“, sagt Barbara Kramer, während ihre Mitarbeiter mit Lupe und Pinzette in einer meterlangen Hecke nach dem buchstäblichen Haar in der Suppe suchen oder beim Abgleich von 50.000 Datensätzen am Computer die Nächte durchmachen.

Gelegentlich sabotiert von Bürokratie und Kompetenzgerangel – was sich aber leicht mit Schwarzwälder Kirschtorte aus der Welt schaffen lässt – tappt die Soko drei Folgen lang im Dunkeln, während Regisseur Krohmer ganz genau weiß, was er tut, stets die Distanz zum Geschehen wahrt wie ein unbeteiligter Beobachter, der sachdienlichen Hinweisen folgt. Für Dramatik sorgt allein der bedrohlich an- und abschwellende sphärische Klangteppich (Musik: Stefan Will). Der realistischen Erzählweise entsprechend nimmt die Handlung keinen geradlinigen Verlauf, sondern alle möglichen Abzweigungen, Erfolgserlebnisse und Enttäuschungen reihen sich aneinander, Anspannung und Euphorie, Ratlosigkeit und Erschöpfung. Die Geschichte interessiert sich nicht für das Motiv, das Wer und Warum, immer nur für das Wie. Die Figuren werden über ihre Arbeitsweise und die Interaktion mit den Kollegen definiert, der übereifrige Internetexperte Navid (Atrin Haghdoust) flirtet mit der hochmotivierten Sandra (Aliki Hirsch), der geltungsbedürftige Bernd (Božidar Kocevski) hat an allem etwas auszusetzen, insbesondere seiner Chefin, die überkorrekte Forensikerin Tanja (Veronika Bachfischer) keine Zeit zu verlieren, die grundsätzlich gegen sie läuft. Kaum haben Kramer und Riedle den Ehemann und den Arbeitskollegen Rocco Dettmers (Markus Krojer) des Opfers ins Visier genommen, geschieht ein weiterer Mord, wiederum an einer jungen Frau, einige Kilometer entfernt, ein ähnlicher Tathergang, eine unerwartete Wendung der ersten Episode, die mit einem markerschütternden Schrei und einem fiesen Cliffhanger endet, der die SOKO zum Umdenken zwingt.
Zwischen Tod und Leichenfund liegen in diesem Fall ein paar Stunden, die Spurenlage ist günstiger, der hinzugerufene Profiler (Johannes Suhm) hält es „in der Gesamtbewertung für wahrscheinlich, dass es sich um ein und denselben Täter handelt, einen Mann zwischen 20 und 40, frustriert, gestörtes Frauenbild“, was dazu führt, dass sich Misstrauen im Ort ausbreitet. Das belastet vor allem Riedle, der nun im eigenen Lebensumfeld nach einem sexuell motivierten Wiederholungs- oder gar Serientäter fahnden muss, während Kramer, die eben erst aus Berlin in ihre Heimat zurückgekehrt ist, um nach dem Tod der Mutter ihren Vater (Elmar Gutmann) zu unterstützen, alle auf Objektivität, Unvoreingenommenheit und Diskretion einschwört. Sie trifft die Entscheidungen, ohne sie oder sich selbst zu erklären, Nina Kunzendorf ist die Leitfigur der Inszenierung, gibt den pragmatisch nüchternen, zielorientierten Ton an. Alltagssprache und Dialektik bestimmen die Dialoge, der Cast ist erfreulich und überzeugend divers. Obwohl Privates außen vor bleibt, das Persönliche immer im Bezug zur Arbeit steht, gewinnen die Figuren an Profil und Charakter, je mehr sie von ihrer Aufgabe vereinnahmt werden, je mehr diese zur Obsession wird. Das erinnert tatsächlich an den Maßstäbe setzenden Serienhit „True Detective“, letztlich sind es die kleinen Schwächen, die Menschlichkeit und der Humor, die den Zuschauer zum Binge-Watching motivieren. Zum Schluss bringt der gesunde Menschenverstand der hungrigen Ermittler, die über sich hinaus- und zu einem Team zusammenwachsen, den Mörder zur Strecke, die Enttäuschung über die anschließende Auflösung der Sonderkommission ist größer als die Freude über den mühsam errungenen Erfolg. „Das war ja mal richtige Polizeiarbeit, staunt die zur „Kripo-Göttin“ aufgestiegene Beamtin.
Corinna Götz