Vertrackter Paranoiathriller über einen Mann, der im Brasilien des Jahres 1977 auf der Flucht ist vor der Geheimpolizei und Auftragskillern.

FAST FACTS:
• Dritter Film von Kleber Mendonça Filho im Wettbewerb von Cannes
• Brillanter Paranoiathriller im Stil der Klassiker der Siebzigerjahre
• Wagner Moura nach Jahren zurück mit einer Hauptrolle in einem brasilianischen Film
• Koproduktion mit Deutschland: Partner ist Fred Burle mit One Two Films
• Deutschlandpremiere beim 33. Filmfest Hamburg
CREDITS:
O-Titel: O agente secreto; Land / Jahr: Brasilien, Frankreich, Niederlande, Deutschland 2025; Laufzeit: 158 Minuten; Regie, Drehbuch: Kleber Mendonça Filho; Besetzung: Wagner Moura, Maria Fernanda Cândido, Gebriel Leone, Carlos Francisco, Alice Carvalho, Udo Kier
REVIEW:
Was für ein trickreich verschlungenes Netz Kleber Mendonça Filho da webt, in vollem Besitz seiner filmemacherischen Kräfte, ein souverän und selbstbewusster Paranoiathriller, der seiner Kulisse inmitten des Schreckens der brasilianischen Militärdiktatur ebenso gerecht wird wie der filmischen Form, die er bemüht: Natürlich standen die amerikanischen Politthriller jener Zeit Pate – „Zeuge einer Verschwörung“, „Die drei Tage des Kondor“, „Der Dialog“. Aber Filho gelingt es, deren Elemente in seine dritte Einladung in den Wettbewerb von Cannes (nach „Aquarius“ im Jahr 2016 und „Bacurau“ im Jahr 2019) in einer Form zu assimilieren, dass nie seine Autorenschaft in Zweifel gezogen werden kann: „O agente secreto“, so der Originaltitel der Koproduktion mit Producer on the Move Fred Burle von One Two Films als deutschem Produktionspartner, ist unverkennbar brasilianisches Genrekino auf höchstem Niveau, vertrackt konstruiert, kraftvoll erzählt, selbstbewusst inszeniert und obendrein in einer Form verspielt, wie man es vermutlich nicht erwarten würde, wenn man es nicht mit einem Regisseur zu tun hätte, der in seinem letzten Film UFOs in einem überflüssig gewordenen Dorf landen ließ und auf unerhörte Weise den Spaghettiwestern mit dem Kino von Werner Herzog vermählte. So kann es schon sein, dass es unvermittelt einen radikalen Zeitsprung vom Jahr 1977 in die Gegenwart gibt oder dass in einer aberwitzigen Sequenz ein „haariges Menschenbein“ in einer hitzigen Sommernacht in einem Park mit der Prostitution aufräumt.

Von einer Zeit des „Schindluders“ spricht der Film gleich zu Beginn. Man wundert sich noch über die ungewöhnliche Formulierung: Es scheint doch eine zu flapsige Formulierung für den nackten Terror, mit dem das Militärregime das Land überzogen hat – siehe Walter Salles’ aktuellen Oscargewinner „Für immer hier“: Menschen verschwinden spurlos, werden gefoltert und getötet in den Militärgefängnissen, die Leichen werden entsorgt. Aber Kleber Mendonça Filho hat dieses „Schindluder“ gezielt gewählt, ganz absichtlich, weil es ihm weniger um den Terror als solchen geht in seinem Film, der absolut unerhörten Offenheit, mit der Polizei und Behören agieren, mit Auftragskillern fraternisieren, sich beäumeln, wenn sie in der Zeitung lesen, dass in der Woche des Karnevals wieder einmal mehr als 90 Menschen bei den Feiern gestorben sind, wo sie doch wissen, dass all diese Menschen Opfer der Militärs waren. Lass jucken, Kumpel! So erklärt sich auch das „haarige Bein“: Es ist ein menschliches Bein, das beim Ausweiden eines Haifischs entdeckt wurde, ohne dass man erklären kann, wem es gehört: Die Medien werden genutzt, daraus eine urbane Legende zu schnitzen: Passt auf vor dem „haarigen Bein“, bevor es euch holen kann: absurder Inbegriff der totalen Willkür eines gewaltberauschten Staatsapparats.

Weshalb Hollywoodstar Wagner Moura (zuletzt in „Civil War“ und „Dope Thief“) im Grunde ein toter Mann ist im ersten Moment, in dem man ihn sieht in diesem Film in einem gelben VW Käfer auf dem Weg nach Recife. An einer Tankstelle unterwegs liegt ein paar Meter von den Zapfsäulen entfernt die mit einem Pappkarton zugedeckte Leiche eines Mannes, an der schon die Hunde nagen. Hat versuchen zu stehlen, wurde niedergestreckt, jetzt wartet man seit fünf Tagen, dass die Polizei kommt. Das Leben ist keinen Heller wert in diesem Brasilien, sagt „The Secret Agent“ überdeutlich gleich zu Beginn und nutzt dann die Form des Thrillers, um eine pechschwarze Satire zu erzählen, angetrieben von Wut und Zorn und Fassungslosigkeit fast 50 Jahre später: Der Film von Kleber Mendonça Filho ist auch ein politischer Brandsatz, wenn er einerseits eine fast rührende Geschichte erzählt von einem solidarischen Netzwerk, das Flüchtigen vor dem Zugriff des Regimes Zuflucht, Unterstützung und nach Möglichkeit Rettung verspricht mit Unterkunft, gefälschten Pässen und einem eigenen Schleusersystem. In dieses begibt sich Moura als Marcelo, während er gleichzeitig versucht, seinen Sohn wiederzufinden und vergangene Fehler gutzumachen. Parallel dazu deckt der Film in seinem dreckigen, verwaschenen und genuinen Siebziger-Jahre-„French Connection“-Look, die Machenschaften der Geheimpolizei auf, lässt die beiden Handlungsstränge zunächst parallel verlaufen und dann immer unausweichlicher aufeinander zu. Da ist virtuoses Filmemachen am Werk, mit der gnadenlosen Hitze als ständigem Begleiter und einem Land in einer Art kollektiver Hypnose. Eine Schlüsselszene spielt im Büro eines Kinos, während auf der Leinwand „Das Omen“ läuft und Zuschauer im Auditorium in Ekstase verfallen. Kein Wunder, dass im Radio „Love to Love You, Baby“ von Donna Summer läuft: Wenn es nur hilft, dieser Realität zu entfliehen, ist auch Disco aus München willkommen. Zu einem Gastauftritt schaut mal wieder Udo Kier vorbei.
Alles ist, wie es ist, aber doch nie ganz so, wie es aussieht. Wie wir feststellen, dass Marcelo eigentlich ganz anders heißt, aber womöglich mehr als nur zwei Identitäten besitzt, hat hier fast alles einen doppelten Boden, wie eben auch die Tatsache, dass sich die so unmittelbar erlebte Handlung offenbar zusammensetzt aus zahllosen Kassettenaufnahmen, die eine Behörde in der Gegenwart auswertet, um ein Bild zu bekommen von dem wahren Schrecken der Zeit, an die sich der Regisseur, der 1977 acht Jahre alt war, mit verblüffender Genauigkeit zu erinnern scheint. Man muss schon dabei bleiben und höllisch aufpassen, um den Faden nicht zu verlieren bei den vielen Figuren und Plotsträngen und komplexen Zusammenhängen. Aber eines ist gewiss bei diesem 160-minütigen Ritt, der pures Kino ist und doch die Realität immer im Fokus hat: Kleber Mendonça Filho treibt kein Schindluder mit dem Publikum. Naja, manchmal vielleicht, aber dann immer mit dem Schalk im Nacken.
Thomas Schultze