Herausragendes Drama über einen Patriarchen, der sich seinen entfremdeten Töchtern wieder anzunähern versucht, indem er ein persönliches Filmprojekt in ihrem Familienhaus herstellen will.
FAST FACTS:
• Rückkehr von Joachim Trier vier Jahre nach „Der schlimmste Mensch der Welt“
• Herausragende Meditation über die heilende und verbindende Kraft der Kunst
• Fulminante Darstellerleistungen von Renate Reinsve, Inga Ibsdotter Lilleaas, Elle Fanning und Stellan Skarsgård
• Drehbuch erneut geschrieben von Trier gemeinsam mit Eskil Vogt
• Komplizen Film an Bord als deutscher Koproduzent
• Historische 19-minütige Standing Ovations nach Premiere im Salle Lumière
CREDITS:
O-Titel: Akkeksjonsverdi; Land / Jahr: Norwegen, Frankreich, Dänemark, Deutschland 2025; Laufzeit: 135 Minuten; Regie: Joachim Trier; Drehbuch: Joachim Trier, Eskil Vogt; Besetzung: Renate Reinsve, Inga Ibsdotter Lilleaas, Stellan Skarsgård, Elle Fanning, Anders Danielsen Lie; Verleih: Plaion Pictures
REVIEW:
I saw a dream last night, brighter than a falling star.
Ein bisschen waren die Filme von Joachim Trier immer schon wie die Lieder von Terry Callier: schwermütig, versonnen, feingliedrig, seelenvoll, verlangend, liebevoll, zu gut für die Welt. Schön festzustellen, dass Joachim Trier das auch selbst so zu sehen scheint. Während die Kamera in den ersten Bildern von „Sentimental Value“ über die Dächer von Oslo gleitet, wie in gefühlt zu Beginn jedes Films des Norwegers, der vor vier Jahren den Jackpot knackte mit dem unglaublich tollen „Die schlimmste Person der Welt“ und seine Hauptdarstellerin Renate Reinsve den Darstellerinnenpreis in Cannes gewinnen ließ, erklingt Calliers zarter Song „Dancing Girl“, der Opener seines Jahrhundertalbums „What Colour Is Love?“, und man weiß: Alles wird gut, diesem Film kann man vertrauen, das wird was. In der Tat: Trier arbeitet am obersten Limit seiner erzählerischen und inszenatorischen Fähigkeiten, ist hier weniger verspielt, ist weniger Sturm und Drang als in der Arbeit davor, die sich anfühlte, als wollte der Filmemacher mit der Tür ins Haus fallen und uns alle mitnehmen mit seiner schieren Lust an den Möglichkeiten des Erzählens, der Feier des Lebens. Diesmal ist der Ton leiser, die Handlung verengter, die Erzählung behutsamer. Aber Trier will noch mehr, viel viel mehr. Es geht um Familie, um Ibsen und Bergman, um die Heilung verletzter Seelen und einer entzweiten Familie mit den Mitteln der Kunst, den Mitteln des Kinos. Das ist ein Drahtseilakt, den man erst einmal hinkriegen muss. Trier und sein bewährter Mitautor Eskil Vogt wagen es, das Scheitern immer vor Augen und genau daraus eine traumwandlerische Sicherheit schöpfend.
Wie um uns zu zeigen, dass er weiß, um wie viel es geht, lässt der Filmemacher seine Muse Renate Reinsve diesmal als Schauspielerin Nora gleich in ihrer irren ersten Szene ein Lampenfieber für die Ewigkeit haben, das sie lähmt und es ihr unmöglich macht, die Bühne eines voll besetzten Theaters in Oslo zu betreten. Die Produktionsleiterin und der Regisseur müssen sie beknien, überhaupt ihre Garderobe zu verlassen. Vor der Bühne dreht sie wieder um, will fliehen, sich aus ihrem engen Kleid befreien. Ein Mitschauspieler – Gastauftritt von Trier-Regular Anders Danielsen Lie – will sie beruhigen, in einer wilden Übersprungshandlung küsst sie ihn, zerrt an seinen Klamotten, dann fordert sie ihn auf, er solle ihr eine Ohrfeige geben. Am Ende ist der Auftritt ein Triumph, Nora wird gefeiert. Der Film teilt das Lampenfieber von Nora. Man spürt seine Nervosität, seine Hoffnung, ihm möge gelingen, was sich seine Macher auf die Fahnen geschrieben haben, eine Geschichte wie „Die Royal Tenenbaums“ um Dysfunktionalität und Läuterung mit den Mitteln des Kinos von Joachim Trier. Bitte, liebe Filmgötter, lasst es mich hinkriegen.
Nora ist eine von zwei Schwestern im Mittelpunkt der Handlung, eine Künstlerin, die zu Melancholie neigt, sich nicht festlegen will in ihrem Leben, weil sie das nicht kann, die allein lebt, ihren inneren Tumult in ihre Rollen kanalisiert. Die andere Schwester ist Agnes, im Grunde Noras Gegenteil, geerdet und mit beiden Beinen im Leben stehend, sie arbeitet als Archivarin, hat einen kleinen Sohn – sie wird gespielt von Inga Ibsdotter Lilleaas, eine echte Entdeckung mit ihrem ruhigen, wachen Blick. Was die beiden Schwestern eint, ist ihre Entfremdung von ihrem Vater, dem einstmals erfolgreichen Filmemacher Gustav Borg, der der Familie vor Jahren den Rücken gekehrt hat. Stellan Skarsgård war niemals so gut wie hier, er ist überragend als Mann, der mit seinem brüsken, selbstbezogenen Wesen immer nur Porzellan zerschmissen hat, ohne jemals Verantwortung dafür zu übernehmen. Nun aber, merken wir nach und nach, möchte er es nicht nur aufkehren. Er will es kitten. Er will Dinge richten. Er kennt aber nur einen Weg, wie man das tun kann: mit seiner Arbeit als Regisseur, als Filmemacher, erfüllt von der romantischen Überzeugung, dass Kunst die Menschen zusammenbringt, das gemeinsame Produzieren von Kunst ein Ausdruck von tiefempfundener Liebe ist: das Kino als Himmelsmacht mitten auf Erden.
Gustav kehrt zurück nach Oslo, am Tag der Trauerfreier in dem alten Familienhaus mitten in der Stadt, als die Mutter der beiden Frauen gestorben ist, seine ehemalige Ehefrau. Weil er nicht weiß, wie man um Vergebung bittet, hat er ein Drehbuch geschrieben und bietet Nora die Hauptrolle an, sein erster Film seit 15 Jahren. Es ist gut, sagt er. Lies es. Sie lässt es liegen, verweigert ihm die Zusammenarbeit. Was ungefähr der Punkt ist, an dem sich die eigentliche Handlung in Bewegung setzt. Denn Gustav hat einen Plan, er weiht das Publikum nur nicht darin ein. Man entdeckt es auf dem Weg, beginnt es irgendwann zu ahnen und ist dann zunehmend ekstatisch, wenn man erkennt, wie sich die Puzzlestücke zusammensetzen, ohne dass jemals etwas forciert, angestrengt oder gar behauptet wirkt. Gustav macht erst einmal weiter. Bei einer Retrospektive seines Werks beim Filmfestival in Deauville lernt er den amerikanischen Filmstar Rachel Kemp kennen, gespielt von einer wunderbar aufmerksamen Elle Fanning, und kann sie für die Rolle gewinnen. Als sie nach Oslo kommt, um sich auf den Film vorzubereiten, löst das unerwartet tiefe Gefühle bei den Schwestern aus. Es ist schwierig, aber die Dinge geraten in Bewegung.

Sehr humorvoll und mit einem mehr als wissenden Blick erzählt „Sentimental Value“ von den Vorbereitungen auf den Film, den Gustav drehen will. Joachim Trier nutzt die Konstruktion, um einen fortlaufenden Kommentar zum Zustand des Kinos und seiner Industrie zu geben – aber nie so fachidiotisch, dass man als Nicht-Insider außen vor bliebe. Und darüber, dass Gustav seinem siebenjährigen Enkel zum Geburtstag DVDs von „Irreversible“ und „Die Klavierlehrerin“ schenkt, kann man auch lachen, wenn man nicht vom Fach ist. Bei der Pressevorführung gestern am späten Abend schlug sich der Saal jedenfalls auf die Schenkel. Aber das sind kluge Add-Ons, Farbtupfer, wie die geschickten Rückblenden, die die Geschichte des Familienhauses illuminieren, als würde man in die Sonne schauen, eine Schlüsselszene aus einem alten Werk Gustavs, die viel über ihn erzählt, oder entscheidende Szenen einer Familiengeschichte voller Schmerz und Enttäuschung. Nie verlieren Joachim Trier und seine wackeren Mitstreiter vor und hinter der Kamera (als deutscher Koproduzent ist Komplizen Film an Bord) aus den Augen, worum es ihnen geht, was ihnen wirklich auf den Nägeln brennt. Sie machen es mit den Mitteln des zärtlichsten Bergman-Films, den Bergman nie gemacht hat, lassen die Figuren mit ihren Handlungen und Blicken sagen, wozu sie verbal niemals möglich wären. Und führen das Publikum auf eine Reise, die das Familienhaus nie allzu weit verlässt, aber sich doch so anfühlt, als sei man mitgenommen worden in eine andere Galaxie und wieder zurück. Am Schluss spielt „Cannock Chase“ von Labi Siffre über den Credits. Alles wird gut.
Thomas Schultze