Entrückte Filmfantasie über eine Welt, in der Träumer die Menschen davon abhalten, ein ewiges, aber langweiliges Leben zu führen.

FAST FACTS:
• Das große Staunen am vorletzten Tag des Wettbewerbs von Cannes
• Nach „Long Day’s Journey Into Night“ der nächste filmische Fiebertraum von Bi Gan
• Spezialpreis der Jury beim 78. Festival de Cannes, auf Drängen von Jurypräsidentin Juliette Binoche
CREDITS:
O-Titel: Kuang Ye Shi Dai; Land / Jahr: China 2025; Laufzeit: 160 Minuten; Regie, Drehbuch: Bi Gan; Besetzung: Yee Jackson, Shu Qi, Chao Mark, Li Ggengxi
REVIEW:
Man will keine Schallplatte mit Kratzer sein und ständig wiederholen, dass David Cronenberg 1996 in Cannes für „Crash“ den Spezialpreis der Jury erhielt für „Wagemut und Unverforenheit“. Und doch erscheint es angebracht, weil das genau der Preis ist, den es in diesem Jahr für den neuen Film des chinesischen Filmkünstlers Bi Gan gegeben hat – angeblich war Jurypräsidentin Juliette Binoche die einzige Fürsprecherin des Films in der Jury und setzte diesen Preis eigenwillig durch. „Wagemut und Unverfrorenheit“, das trifft es schon ganz gut, denn was „Resurrection“ da am späten Donnerstagabend kurz vor Ende des 78. Festival de Cannes zu bieten hatte, war ein Ritt, wie es ihn selbst in diesem an außergewöhnlich konzipierten und umgesetzten Filmen wie „In die Sonne schauen“ und „Sirât“ (die sich nicht von ungefähr den Preis der Jury teilten) nicht gab und wie man ihn im Kino ganz selten erlebt, eine Traumreise durch eine Bilderwelt, der man sich entweder ergibt und darin seine Erfüllung findet (wie beispielsweise die einflussreichen Kritiker Jessica Kiang, Guy Lodge oder Justin Chang, die sich für eine Goldene Palme aussprachen) oder die einen außen vor lässt, dass man vielleicht den unerhörten Freiflug der Fantasie lobpreisen kann, aber auch erkennt, dass dies Projekt in seiner ganzen 160-minütigen Pracht doch eher eine Folie ist, eine Verrücktheit, am ehesten noch vergleichbar mit der unfertigen Schnittfassung von „2046“, die Wong Kar-Wai 2004 am letzten Tag des damaligen Festival de Cannes präsentierte.
Was immer man auch erwartet haben mag von der Folgearbeit des 35-jährigen Regisseurs, der mit Mitte 20 mit seinem „Kali Blues“ auf sich aufmerksam gemacht hatte und dann drei Jahre später 2018 seinen Durchbruch erlebte mit „Long Day’s Journey into Night“, der Kritik und Publikum in Un Certain Regard plättete mit einem 59-minütigen One-Shot in 3D (!!!), bei dem die Kamera förmlich zu machen schien, was sie wollte. So etwas hatte man noch nicht gesehen. Und was er nun sieben Jahre später abliefert, mit seiner persönlichen Wiederauferstehung, das hat man auch noch nicht gesehen, ist auch wieder Kinomagie in Reinform, Poesie in Bildern, ungehindert von gängigen Restriktionen wie Realität oder den Gesetzen der Physik. Wenn man es denken kann, kann man es auch filmen. Und was Bi Gan denkt, geht weiter über das hinaus, was normalerweise so gedacht wird, ist ein Kompendium der Filmgeschichte von Meliès über Melville zu Tarkowski, das erklärte Vorbild Bi Gans, dessen „Stalker“ ihm seinerzeit die Augen geöffnet hatte, zu was das Medium Film fähig ist, und Bau einer Welt, die so eigenwillig ist, wie man es zuletzt in der Literatur bei Eleanor Cattons Booker-Prize-Gewinner „Die Gestirne“ erlebt hatte.
In „Resurrection“ geht es also um eine Welt, die einem in einem ausschweifenden Prolog in Form eines Stummfilms per Textkarten erklärt wird, in der die Menschen das Geheimnis zu ewigem Leben entdeckt haben, indem sie kollektiv aufgehört hat zu träumen. Dem widersetzen sich so genannte „Fantasmers“, die lieber intensiv empfinden und dann ausbrennen, als auf ewig ein Leben ohne Fantasie zu führen, dadurch aber Chaos in die Ordnung bringen und die Zeit springen lassen. Durch fünf verschiedene Perioden, die jeweils auch andere Phasen und Stile des Filmemachens – der ultimative Traum! – sowie die fünf Sinne abdecken, werden die Fantasmers nun gejagt, von so genannten „Großen Anderen“, die sich in den Träumen bewegen und deren Aufgabe es ist, die Träumer wieder aufzuwecken. Die expressive Stummfilmära, ein Spionagefilm im Stil eines Noir, das romantische chinesische Kino und die Moderne zählen zu diesen verschiedenen Stadien, die Bi Gan, der große „Fantasmer“ am Steuer des Films, aus seinen eigenen Träumen und Erinnerungen an erlebtes Kino zu rekonstruieren scheint, ein staunenswertes Szenario, naiv, intuitiv, verrückt, entrückt und am Schluss wieder mit einem 40-minütigen One-Shot, der alles bisher Gesehen noch einmal neu zu staunenswertem Kino zu einem nicht minder staunenswerten Score des französischen Electro-Outfits M83, das sich in und um sich selbst neu zu erwecken scheint, ein Triumph der Romantik. „Wagemut und Unverfrorenheit“. In der Tat. Und wie gemacht für den Spezialpreis der Jury.
Thomas Schultze