Richard Linklaters Liebesbrief ans Kino, eine Chronik der Dreharbeiten zu Jean-Luc Godards unerreichtem Regiedebüt „Außer Atem“ aus dem Jahr 1959.
FAST FACTS:
• Zweiter Film von Richard Linklater in diesem Jahr, nach seinem Publikumsliebling „Blue Moon“ auf der Berlinale
• Rückkehr Linklaters in den Wettbewerb von Cannes, 19 Jahre nach „Fast Food Nation“
• Hinreißende Nachgestaltung des Drehs von „Außer Atem“ von Jean-Luc Godard
• Mitreißende Verbeugung vor dem Kino
CREDITS:
Land / Jahr: USA, Frankreich 2025; Laufzeit: 105 Minuten; Regie: Richard Linklater; Drehbuch: Holly Gent, Vincent Palmo Jr.; Besetzung: Guillaume Marbeck, Zoey Deutch, Aubry Dullin, Adrien Rouyard, Antoine Besson, Jodie Ruth-Forest, Benjamin Clery, Brune Dreyfürst
REVIEW:
Wenn es jemals einen Liebesbrief an das Kino gegeben haben mag, er wird sich fortan gegen „Nouvelle Vague“ von Richard Linklater behaupten müssen. Der Texaner hat sich mit seinem bereits zweiten Film in diesem Jahr an den Ursprung seiner eigenen Liebe für die siebte Kunst begeben, eine unerhört witzige und gewitzte, anspielungsreiche und kunstvoll realisierte Chronik der Dreharbeiten zu Jean-Luc Godards Regiedebüt „Außer Atem“ aus dem Jahr 1959, eines der einflussreichsten Werke der Filmkunst überhaupt, der Beginn des modernen Kinos und Inbegriff der französischen Nouvelle Vague, the birth of cool, hunderttausendfach aufgegriffen und kopiert, so oft als Einfluss genannt, auch von Richard Linklater selbst, dass der Film mit Jean-Paul Belmondo und Jean Seberg ohne eigenes Zutun längst seine eigene Selbstparodie geworden ist.
„Nouvelle Vague“ rückt die Dinge gerade, ist verspielt und angriffslustig, voller Lust und Respekt vor dem Nacherleben dieser Stunde null des Kinos, hält den Moment mit Inbrunst fest, an dem Godard das Medium noch einmal neu erfand: Der Film elektrisiert sich an sich selbst. Man will gar nicht wissen, wieviel Vorbereitung, präzise Choreographie und Detailversessenheit nötig war, um eine berauschende Ode an einen Film zu machen, dessen Entstehung das absolute Gegenteil war, bei dessen Produktion sein Macher sich keine Sekunde um die Regeln scherte und wie der Film entsteht, solange er ihn beim Entstehen formen konnte. Dieser wunderbare Widerspruch in sich, dass das wirklich alles funktioniert und man hingerissen ist von den zahllosen Anekdoten und Grillen und Schnurren, ist der essenzielle Zauber, der dem Kino innewohnt und den Richard Linklater mit einer beschwingten Leichtigkeit wie einen Blitz in der Flasche festhält.
Dafür wagt er den genialen Kniff, seinen Film selbst vollumfassend so zu gestalten, als sei er 1959 entstanden, was so weit geht, dass gleich zu Beginn als Entstehungsjahr 1959 eingeblendet wird. Eins zu eins wurde von Kameramann David Chambille, der erstmals mit Richard Linklater arbeitet, das Schwarzweiß von „Außer Atem“ nachempfunden. Mehr noch, das Material wurde so manipuliert, dass man glaubt eine alte Filmkopie von damals zu sehen, inklusive der Übergangsmarker für die einzelnen Akte. Es ist ein feuchter Traum für jeden Filmgeek: Jede Einzelheit in Kostüm und Ausstattung stimmt und ist stimmig. Natürlich hat der Regisseur den Film auf Französisch gedreht und ist mit bewundernswerter Akribie bei der Besetzung vorgegangen. Gleich zu Beginn werden die entscheidenden Protagonisten vorgestellt, jeweils mit Namenseinblendung. Wir sehen François Truffaut, gespielt von Adrien Rouyard, Claude Chabrol, gespielt von Antoine Besson, Suzanne Schiffman, gespielt von Jodie Ruth Forest, und dann natürlich den Mann, um den es geht, Jean-Luc Godard, den Vordenker, den Rädelsführer, das Aushängeschild der Nouvelle Vague, zu diesem Zeitpunkt der letzte unter den führenden Kritikern der Cahiers du Cinema, der noch nicht Regie geführt hat und entsprechend unter Druck steht. Nachdem Michel Hazanavicius den wichtigsten Regisseur des modernen Kinos in seinem „Le Redoutable / Godard Mon Amour“ vor ein paar Jahren ebenfalls im Wettbewerb von Cannes noch als lächerlichen Popanz und eitlen Fatzke vorgeführt hatte, gibt Linklater ihm seine messerscharfe Intelligenz und einmalige Schlagfertigkeit zurück, seinen schlauen Humor und ätzenden Witz, lässt seinen Schauspieler Guillaume Marbeck, eine echte Entdeckung, ausufernde Vorträge über das Wesen des Kinos halten und stets seine Verachtung für Konventionen und heroischen Kampf gegen die Produzenten und Geldgeber wie ein Schild vor sich hertragen. Man liebt diesen Mann bedingungslos.
Und man sieht mit wachsendem Entzücken zu, wie dieser Film entsteht mitten auf den Straßen von Paris, jeden Tag wieder aufs Neue aus dem Ärmel geschüttelt, mit Jean-Paul Belmondo und Jean Seberg – gespielt von Aubry Dullin und Zoey Deutch, letztere der einzige bekannte Name im Cast, zuletzt in „Juror #2“ zu sehen gewesen – als Stars an seiner Seite, die selbst nicht fassen können, dass sie sich auf dieses Abenteuer mit ungewissem Ausgang eingelassen haben. Der Film ist angefüllt mit Bonmots und Zitaten, berauschenden Momenten und einer wachsenden Anzahl von Mitstreitern, viele von ihnen Legenden der Filmgeschichte, die wie die Helden zu Beginn allesamt mit Namenseinblendung vorgestellt werden. „Nouvelle Vague“ gelingt die Quadratur des Kreises. Wie schon die beiden völlig anderen Linklater-Filme davor, „Hitman“ in Venedig und „Blue Moon“ in Berlin, ist auch diese Arbeit ein Crowdpleaser, ein großes Vergnügen, das sein Publikum immer einlädt, an seiner Seite dabei zu sein, wie Geschichte geschrieben wird, wie ein kreatives Genie die Welt um sich herum Kraft seiner Kunst formt. Man will „Nouvelle Vague“ sofort wieder sehen. Und „Außer Atem“ gleich mit (und das gescheiterte Remake „Atemlos“ von Jim McBride – warum auch nicht?) Und den ganzen Rest des frühen Godard und der anderen Meister der französischen neue Welle gleich mit.
Thomas Schultze