Provokanter und explosiver Neo-Western über einen Kleinstadtsheriff, der zu Beginn der Corona-Pandemie mit einer Situation konfrontiert wird, die ihm schnell über den Kopf wächst und Gewalt nach sich zieht.
FAST FACTS:
• Der ambitionierteste und zugleich zugänglichste Film von Ausnahmetalent Ari Aster
• Sensationelle Besetzung mit Joaquin Phoenix sowie Emma Stone, Pedro Pascal und Austin Butler
• Weltpremiere im Wettbewerb des 78. Festival de Cannes
CREDITS:
Land / Jahr: USA 2025; Laufzeit: 149 Minuten; Regie, Drehbuch: Ari Aster; Besetzung: Joaquin Phoenix, Emma Stone, Pedro Pascal, Austin Butler, Micheal Ward, Luke Grimes, Amélie Höferle, Clifton Collins Jr.; Verleih: LEONINE Studios; Start: 17. Juli 2025
REVIEW:
Erstmals blickt ein großer amerikanischer Film zurück auf die Corona-Pandemie, und er macht es mit einer Verve und Bissigkeit, als legte es Autor und Regisseur Ari Aster in seinem vierten Film darauf an, die beste Verfilmung eines Romans von Don DeLillo abzuliefern, die nicht auf einem Roman von Don DeLillo basiert – und auf jeden Fall schon einmal in allen Belangen Noah Baumbachs „White Noise“ übertrifft und den Mut hat, den Finger am Puls eines Amerika zu haben, das zur Zeit der Handlung das Fundament für die innere Zersetzung erlebt, das das Land aktuell in seinen Grundfesten erschüttert. Faszinierend fiebrig setzt sich das Szenario zusammen aus den belegten Ereignissen im Mai 2020, die Lockdowns und Maskenmandate, die Ermordung von George Floyd in Minneapolis und die folgenden Ausschreitungen im Land, ebenso wie das Erblühen verrücktester Verschwörungstheorien, die den Keil noch tiefer in eine entzweite Gesellschaft treiben. Ein buchstäblich giftiger Paranoia-Mix entsteht daraus, den Ari Aster mit voller Wucht und filmischer Virtuosität wie einen Molotow-Cocktail auf die (fiktive) 5000-Seelen-Gemeinde Eddington in New Mexico wirft und zusieht, wie in der Kombination mit den ganz eigenen Problemen seiner Hauptfiguren ein Flächenbrand entsteht, der sich über die üppige Laufzeit von knapp zweieinhalb Stunden immer weiter ausbreitet. Was beginnt als absurde, pechschwarz angestrichene Gesellschaftskomödie und Porträt eines lächerlichen Mannes, steigert sich zunehmend zu einer Art moderner Western, der die Konventionen des Genres auf die mit Handys, Laptops und Bildschirmen saturierte Gegenwart prallen lässt: Charlie Kaufman meets Raoul Walsh. Echt jetzt.
Die Besetzung allein reicht aus, aufhorchen zu lassen, das Projekt unbedingt ernstzunehmen. Nach der ausufernden Tour de Force „Beau Is Afraid“ arbeitet Ari Aster wieder mit Oscargewinner Joaquin Phoenix zusammen und umgab ihn mehr oder weniger mit einem Who’s Who der A-Liste unter den Hollywoodstars: Emma Stone, Pedro Pascal, Austin Butler, Micheal Ward, Luke Grimes und die deutsche Nachwuchsschauspielerin Amélie Hoeferle, die schon in „Night Swim“ aufgefallen war. Aber keine Frage: Sie alle spielen Nebenrollen. Im Zentrum der Handlung steht Phoenix in seiner besten Darstellung seit einer ganzen Weile als vom Leben und bald auch schon vom Job überforderter Kleinstadtsheriff Joe Cross. Mit nur zwei weiteren Beamten sorgt er für Recht und Ordnung, was im Grunde gut gelingt in der verschlafenen Gemeinde, sieht man von Nicklichkeiten mit der Pueblo-Polizei des angrenzenden Navajo-Gebiets ab, weil man sich nicht einig werden kann über den genauen Verlauf der buchstäblichen Grenzlinie der Verantwortlichkeiten. Cross hat private Probleme: Seine Frau Louise ist von ihm entfremdet, und Joe gibt die Schuld seiner Nemesis, dem Bürgermeister Ted Garcia, der so etwas wie ein rotes Tuch für alle seine Probleme wird. Dass sich Louises Mutter Dawn bei ihnen eingenistet hat, forciert die angespannte Situation. Corona sorgt schließlich für die Eskalation. Ständig gibt es Zwist um Masken, die Joe selbst nie trägt. Die Proteste von Black Lives Matter sind nicht groß, aber es reichen dann schon 20 Leute auf der Main Street von Eddington, um die Polizei massiv zu überfordern. Die für die allgegenwärtigen Verschwörungstheorien anfällige Dawn lädt einen windigen Selbsthilfeguru ins Haus. Und Joe entscheidet sich, sich bei der bevorstehenden Bürgermeisterwahl, als Gegenkandidat aufstellen zu lassen, fährt fortan mit seinem mit grotesken Werbeslogans vollgeklebten Dienstwagen durch die Stadt und trommelt mit stammelnden Durchsagen für sich.
Was beginnt als eine brandaktuelle Version von Robert Altmans „Nashville“, ein satirisches Stimmungsbild einer großen Nation, die ihren Zenit überschritten hat, explodiert alsbald in ein surreales Fresko, in dem sich Verfolgungswahn den Weg beißt in unweigerliche Gewalt, stets die Ultima ratio im Westerngenre. Aber wie „Eddington“ kopfüber in die Katastrophe rast, ein Thermomix des Wahnsinns, welche Haken die Handlung dabei schlägt und wie die persönliche Sinnkrise des Mannes im Zentrum rechts und links überholt wird von Ereignissen, über die er noch deutlich weniger Kontrolle hat als über sein von Auflösung begriffenes Wesen, das hat eine Entschlossenheit, einen Mumm, wie man ihn im amerikanischen Kino letzthin nicht mehr gesehen hat. Während Cross hustend, keuchend und mehr schwitzend als Gunnar Björnstrand in „Licht im Winter“ auf die Ergebnisse seines Covidtests wartet, verdichtet sich seine persönliche Höllenfahrt zu einem Showdown, den Aster und seine genialer Kameramann Darius Khondji zu einer Masterclass gemacht haben: Bestenfalls die Coens in ihrer besten Zeit – sprich: „No Country for Old Men“ – haben eine solche Sequenz mit derart zwingender Konsequenz und kreativer Bravour jemals hinbekommen. Man hält den Atem an und traut seinen Augen nicht, was sie alles aus dem Hut zaubern, welche Überraschungen und Kniffe sie bereithalten in diesem besonderen Finale, „High Sierra“ als Fiebertraum, „High Noon“ als Apotheose mit militärischer Feuerkraft. Bestenfalls die Dead Kennedys haben den amerikanischen Traum in ihren Songtexten jemals so gnadenlos filettiert.
Thomas Schultze