Adaption des Erfolgsromans „Stirb doch, Liebling“ über eine Frau, der in einem abgeschiedenen Häuschen alles über den Kopf wächst, Liebe, Ehe, Familie, Baby, Leben.
FAST FACTS:
• Rückkehr von Oscargewinnerin Jennifer Lawrence auf die große Leinwand nach zweijähriger Pause
• Topbesetzung, zu der neben Lawrence auch Robert Pattinson und LaKeith Stanfield zählt
• Verfilmung des für einen International Booker Prize nominierten Romans von Ariana Harwicz aus dem Jahr 2012
• Erster Film von Lynne Ramsay in acht Jahren, die zuletzt mit „A Beautiful Day“ in Cannes war
• Weltpremiere im Wettbewerb des 78. Festival de Cannes
CREDITS:
Land / Jahr: USA 2025; Laufzeit: 118 Minuten; Regie: Lynne Ramsay; Drehbuch: Lynne Ramsay, Enda Walsh; Besetzung: Jennifer Lawrence, Robert Pattinson, Sissy Spacek, LaKeith Stanfield, Nick Nolte
REVIEW:
Als Beobachter des Kinos von Lynne Ramsay war man bislang überzeugt, dass sie mit ihren Arbeiten in der Lage wäre, die Leinwand in Flammen zu setzen. So intensiv und einzigartig geraten die Filme der 55-jährigen Schottin, die in den 26 Jahren, seitdem sie 1999 mit „Ratcatcher“ in Un Certain Regard in Cannes debütierte, nur fünf Filme gemacht und jeden davon an der Croisette gezeigt hat, zuletzt „You Were Never Really Here / A Beautiful Day“ im Jahr 2017. In ihrem neuen Film, der erst nachträglich von Thierry Frémaux in den Wettbewerb aufgenommen wurde, weil die Filmemacherin bis zur letzten Minute an ihm feilte, macht sie es nun buchstäblich. Sie setzt die Leinwand in Flammen, zu Beginn von „Die, My Love“ und schließlich in einem ausgedehnten Showdown, wenn man sieht, wie ein ganzer Wald binnen Sekunden Feuer fängt, Bilder von außergewöhnlicher Intensität, visueller Ausdruck für die Gefühlswelt der Hauptfigur, die aus den Fugen geraten ist. Letztmals war es Paul Thomas Anderson mit „Punch-Drunk Love“ gelungen, ähnlich effektiv eine bildliche Entsprechung für einen Gemütszustand zu finden. Aber bei Ramsay geht es noch einen Schritt weiter, weil ihre Heldin nicht einfach nur besonders intensiv fühlt, sondern unverkennbar ein psychisches Problem hat, eine Psychose, mit der sie kämpft und der sie auch mit der Himmelsmacht Liebe keinen Einhalt bieten kann.
„Die, My Love“ ist die Adaption eines 2012 erschienenen Romans der in Frankreich lebenden Argentinierin Ariana Harwicz, der 2018 für den International Booker Prize nominiert war und in Deutschland unter dem Titel „Stirb doch, Liebling“ aufgelegt wurde. Er ist gerade einmal 120 Seiten und ein paar Zerquetschte dick, aber doch eine Steilvorlage für den expressiven Stil von Lynne Ramsay, die die Handlung mit ihrer Drehbuchkollegin Enda Walsh von der französischen Provinz in einen nicht weiter benannten Flecken der USA verlegte. Entscheidend ist das einsame Häuschen mitten in der Natur, in dem von der Minute, in dem Grace und Jackson, ein junges und hemmungslos ineinander verliebtes Paar, einziehen, Alarmstufe rot herrscht. Sie ist schwanger und bringt bald schon einen Sohn zur Welt, mit dem sie endlose Stunden allein verbringt in dieser Hütte, in der Jacksons Onkel Selbstmord begangen hatte. Anstatt wie erhofft die Zeit nutzen zu können, einen großen Roman zu schreiben, durchlebt sie irrwitzige Angstzustände, neigt zu irrationalen Gefühlsausbrüchen, erlebt die Welt wie einen Vorschlaghammer, der fortwährend auf sie eindrischt. Das kommt in Schüben, fängt aber nach und nach an, Besitz von der jungen Frau zu nehmen, die diesem Rausch an Erleben bald schon nicht mehr Herr wird.
Was ist wahr, was ist Fantasie? Darüber wird man endlos debattieren können. Die außergewöhnliche Kunst der bildlichen (Kamera: Seamus McGarvey) und erzählerischen Gestaltung ist hier, dass der Übergang zwischen Realität und Wahn fließend ist, eigentlich auch schon die allerersten Momente nur in Graces Kopf sein könnten, ebenso wie unklar ist, ob die Rückblenden in die Gegenwart von Jacksons Familie, seiner besorgten Mutter, gespielt von Sissy Spacek, und seinem dementen Vater, gespielt von Nick Nolte, mit dem sich Grace besonders verbunden fühlt, nicht vielleicht einfach nur ein Zerrspiegel ihrer zerrütteten Fantasie ist, ebenso wie der schwarze Hengst, der über das Grundstück trabt, oder ein mysteriöser Motorradfahrer, gespielt von LaKeith Stanfield, der immer wieder unvermittelt auftaucht und mit dem sie hemmungslosen Sex in einem Schuppen haben wird. Handfest und unverhandelbar erscheinen indes die immer heftigeren Auseinandersetzungen mit ihrem Ehemann, der ihren überbordenden sexuellen Appetit nicht befriedigen kann und sie in die Masturbation treibt.
Diese Rolle ist eine Handvoll. Oscargewinnerin Jennifer Lawrence liefert sich der Figur mit jeder Faser ihres Körpers aus, ist verschwenderisch in ihrer Freizügigkeit und geht gewiss weiter in ihrer Darstellung und was sie von ihrem Körper zu zeigen bereit ist, als man es von einem Star ihrer Statur erwarten würde. Es ist eine entfesselte Darstellung, wenngleich nicht singulär in ihrem Schaffen. In Darren Aronofskys Schocktheater „mother!“ war Lawrence ähnlich weit gegangen – ein Film übrigens, der „Die, My Love“ gar nicht so unähnlich ist, mit einer vergleichbaren Kulisse und einer ähnlichen Thematik, der Überforderung einer jungen Mutter nach der Geburt ihres Babys, das sie liebt, aber in ihrem Zustand nicht so beschützen kann, wie sie es sich wünschen würde. Nur dass Lynne Ramsays Flug übers Kuckucksnest eine stärkere Weiblichkeit ausstrahlt, weniger das Bedürfnis hat, dem Zuschauer:in zu zeigen, was man technisch alles draufhat. Die gesamte Gestaltung des Films, seine außerordentliche Visualität, das dichte Soundkostüm, das mit seinem ewigen Surren von Fliegen, Sirren der Zikaden, Rauschen des Windes und dem nervtötenden Bellen des kleinen Hundes, den Jackson einmal als Friedensangebot von einer seiner Dienstreisen mitbringt, fast noch einmal ein Film im Film ist und das man nicht genug loben kann, während man Lawrence zusieht, wie sie wie eine Raubkatze durch die Wiese vor dem Haus streift oder in einem Anfall in einem One-Take ein gesamtes Badezimmer kleinmacht. Robert Pattinson bleibt an ihrer Seite wenig übrig, als einfach nur Beistand zu leisten.
„Die, My Love“ ist Lynne Ramsays Film und Jennifer Lawrences Show. Der Film ist schockierend, fordernd, abstoßend, kompromisslos und immer faszinierend, ob man sich bereitwillig mit ihm auf die Reise macht oder nicht. Er ist immer 150 Prozent. Ganz am Schluss ertönt eine neue, auf ein Minimum reduzierte Version des Joy-Division-Klassikers „Love Will Tear Us Apart“, und er fühlt sich an wie der einzige Fehlschritt in diesem Film, der wie ein „Der Rosen-Krieg“ auf Steroiden, Ehe als unentwegte Kampfzone, search and destroy, über den Zuschauer:in hinwegrollt. Besser gewählt ist da John Prines „In Spite of Myself“, den Grace und Jackson in einem der wenigen Momente des gemeinsamen Einverstandnisses im Auto singen. „In spite of ourselves, we’ll end up a-sittin‘ on a rainbow / Against all odds, honey, we’re the big door prize“, singen sie gemeinsam, ein Moment des Friedens. Bis der Krieg im Kopf weitergeht. Und die Leinwand wieder in Flammen gesetzt wird.
Thomas Schultze