Verfilmung des Bestsellers über eine junge Muslima aus einem traditionellen Haushalt in den Banlieues, die entdeckt, dass ihr Herz für Frauen schlägt.
FAST FACTS:
• Verfilmung des gleichnamigen Bestsellers von Fatima Daas
• Dritte Regiearbeit der französischen Schauspielerin Hafsia Herzi
• Deutsche Beteiligung durch Studio Katuh
• Weltpremiere im Wettbewerb des 78. Festival de Cannes
CREDITS:
O-Titel: La petite dernière; Land / Jahr: Frankreich, Deutschland 2025; Laufzeit: xxx Minuten; Regie: Hafsia Herzi; Besetzung: Nadia Melliti
REVIEW:
Widersprüchliche Herzen schlagen in der Brust der mutigen Heldin von „Die jüngste Tochter“. Zusammen schlagen sie so laut, dass einem das Trommelfell platzen droht und einem das eigene Herz zu zerspringen droht, wenn man in der wunderbaren dritten Regiearbeit der Filmemacherin Hafsia Herzi gemeinsam mit ihr eine Entdeckungsreise antritt, die ihr die Welt öffnet, aber gleichzeitig in einen tiefen Konflikt mit ihrer Herkunft und ihrem Glauben bringt. Der Film, eine französisch-deutsche Koproduktion mit deutscher Beteiligung von Vanessa Ciszewski und der Berliner Katuh Studio, ist eine Adaption des gleichnamigen Romans der kämpferischen jungen Schriftstellerin Fatima Daas und erzählt von der einzigen in Frankreich geborenen Tochter algerischer Einwanderer, die in einer Banlieue im Spannungsfeld zwischen islamischem Glauben und homosexueller Liebe einen eigenen Weg finden muss. In der Hauptrolle liefert Nadia Melliti in ihrer ersten Leinwandrolle einen Auftritt, der einem den Atem stocken lässt. Was für eine Entdeckung, was für ein Gesicht, welch eine intensive Ausstrahlung!
Fatima ist eine von den Jungs. In ihrer Banlieue hängt sie tagsüber ab, stets in Sportklamotten gekleidet, die Haare zu einem strengen Pferdeschwanz geflochten, oft eine Baseballcap ins Gesicht gezogen. Ihr Lieblingssport ist Fußball, immer spielt sie allein, für sich. Wie Fatima überhaupt verschlossen ist, für sich bleibt, mit einem sphinxartigen Lächeln zuhört, wenn die Jungs ihrer Clique von den letzten sexuellen Eskapaden erzählen und sich mit unerhörten Praktiken brüsten. Im Geheimen sieht sie einen jungen Mann, der sie dazu drängt, sich weiblicher zu geben und seine Frau zu werden. Sie ist gut in der Schule, wie ihre beiden älteren Schwestern will sie ein gutes Abitur abliefern, auf die Uni gehen, etwas aus sich machen. Ihre Töchter sind der ganze Stolz der Mutter, die als Einwanderin einen traditionellen muslimischen Haushalt führt, aber voller Liebe und Unterstützung für die Kinder ist. Keiner darf wissen, niemand darf jemals erfahren, dass es in Fatima brodelt, sie vor sich selbst nicht länger verheimlichen kann, dass ihr Herz für Frauen schlägt.
Von den graduellen Schritten hinein in eine für die Hauptfigur neue Welt erzählt „Die jüngste Tochter“ mit ungemeinem Fingerspitzengefühl, großer Empathie und Solidarität mit seiner Hauptfigur, in auf das breiteste denkbare Format gestreckte Bilder, die Fatima oftmals im Zentrum zeigen, einsam und verloren in den Kadragen, ein Mädchen, das seinen eigenen Weg gehen muss, ohne zu wissen, wie sie es tun soll. In einer Dating-App nimmt sie Kontakt zu einer älteren Frau, die sich anonymen Sex erhofft, aber sich als verständnisvolle Lehrerin erweist, als sie bei ihrem spätnächtlichen Treffen im Auto Fatimas Zurückhaltung und Zögern spürt. Wir alle waren einmal an dieser Stelle, an diesem Point of no Return: Rücksichtsvoll erzählt sie von Praktiken und überhaupt sexuellen Gefühlen. Fatima trifft sich mit einer südkoreanischen Ärztin, die die an Asthma leidende junge Frau bei einem Kurs kennengelernt hat. Ihre große Liebe, sie scheitert. Sie schließt sich einer Gruppe lebenslustiger lesbischer Muslima an, die ihr bürgerliches Leben hinter sich gelassen haben und erlebt beim Ausleben ihrer sexuellen Bedürfnisse eine Befreiung und Freiheit, wie sie es niemals kannte. „One, two, three, we love the lesbians“ und „Trans“ skandieren sie bei einem Clubabend, umgeben von Gleichgesinnten.
Es sind Momente purer Glückseligkeit, an denen Hafsia Herzi ihr Publikum teilhaben lässt, eine Feier der Gemeinsamkeit, die, das weiß das Publikum ebenso wie der Film, nicht ewig weitergehen kann, weil da dieses Damoklesschwert ist, das über der Hauptfigur hängt, ihre Konfrontation mit ihrem muslimischen Glauben, der Homosexualität in jeglicher Form strikt ablehnt, und schließlich mit ihrer Familie, ihrer liebenden Mutter. Diese Konfrontationen lassen einen unmöglich unberührt. Gerade das Treffen mit der Mutter am heimischen Küchentisch, umgeben von all den vertrauten Gerüchen ist nach einer Begegnung mit dem Imam, der Fatima als Lösung für ihr Problem einzig das Gebet und die devote Wahl eines Ehemannes anbieten kann, ist ein Moment von so großer Emotionalität, dass man beide, die jüngste Tochter und die Mutter, in die Arme schließen will. Für Fatimas Problem gibt es keine Lösung. Ihre Zerrissenheit bleibt bestehen. Aber die verschiedenen Herzen in ihrer Brust: Der Film lässt sie pochen. Loud and proud.
Thomas Schultze