Konsequenter Psychoschocker von Andreas Prochaska, in dem eine Berliner Notärztin in die kleine österreichische Gemeinde ihrer Kindheit zurückkehrt, um ein Erbe abzuwickeln.

FAST FACTS:
• Eröffnungsfilm des Panorama der 75. Berlinale
• Erste Kinoregiearbeit von Andreas Prochaska seit „Das finstere Tal“ in 2014
• Schauspielerische Tour de Force von Julia Franz Richter
• Produktion der Lotus Filmproduktion in Koproduktion mit Senator Film Produktion
CREDITS:
Land / Jahr: Österreich, Deutschland 2025; Laufzeit: 115 Minuten; Regie: Andreas Prochaska; Drehbuch: Andreas Prochaska, Daniela Baumgärtl, Constantin Lieb; Besetzung: Julia Franz Richter, Reinout Scholten van Aschat, Gerti Drassl, Maria Hofstätter, Gerhard Liebmann; Verleih: Wild Bunch; Start: nkT
REVIEW:
Wenn ein Film damit beginnt, dass sich eine Frau mitten in einem Wald anzündet und, beobachtet von anderen Frauen im Schatten am Rand, wie eine Fackel in Flammen aufgeht, dann will man hoffen, dass der Filmemacher das Diktum von Sam Fuller verinnerlicht hat, einen Film mit einer Explosion zu beginnen und sich dann langsam zu steigern. „Welcome Home Baby“, Andreas Prochaskas erster Kinofilm seit „Das finstere Tal“ im Jahr 2014, der beim Deutschen Filmpreis eine Silberne Lola hatte gewinnen könne, steigert sich nicht. Er greift über. Als hätten sich bei Prochaska in der elfjährigen Leinwandabsenz Kinobilder im Überfluss angestaut, ist sein intensiver Psychothriller ein Dammbruch, ein Mahlstrom von Bildern, der den Zuschauer:in mitreißt, ihm den Boden unter den Füßen wegschlägt, eine fortwährende Druckkampagne, die einem lange die Orientierung raubt. Die Seherfahrung ist eins mit dem Erleben der Hauptfigur, gespielt von der furchtlosen Julia Franz Richter, die man bisher kannte als engelsgleiche Erscheinung in „Ein ganzes Leben“, die von der Lawine mitgerissen wird, oder als zunehmend indignierte Freundin von Albrecht Schuch in „Pfau – Bin ich echt?“, hier aber als unerschrockene Vollblutschauspielerin in Erscheinung tritt, die an Orte geht, die man lieber verdrängt.
Richter spielt Judith, eine engagierte, tatkräftige Notärztin in Berlin, die mit ihrem Mann, dem Fotografen Ryan in die österreichische Provinz gerufen wird, in ein gottverlassenes Dorf, das im Schatten eines gewaltigen Autobahnpasses steht: Hier kommt keiner vorbei, der nicht vorbeikommen will. Oder muss, wie im Fall von Judith, die ein Haus geerbt hat, von dem sie nichts wusste und das sie schleunigst verkaufen will. So weit, so „Wicker Man“. Die Heldin kommt in eine Welt, die sie nicht kennt. Oder besser: Die sie vergessen hat. Je länger sie sich in dieser Terra inkognita aufhält, desto intensiver kehren die Erinnerungen zurück, bahnt sich das Unterbewusste den Weg ins Bewusstsein, wie in kurzen Schnappschüssen, ein Blitzlichtgewitter an zunehmend extremen Eindrücken. Ebenso blitzen beim geneigten Zusehenden Bilder auf, Referenzen an andere Filme, an den schon erwähnten „Wicker Man“, auch eine Studie der Entfremdung, die einem am Schluss den Boden unter den Füßen wegzieht, an „Rosemaries Baby“, diesen All-Time-Klassiker über eine ahnungslose Frau im Griff eines diabolischen Konvents. Und dann, immer stärker, immer deutlicher, Argentos „Suspiria“.
„Die Frauen in diesem Dorf waren schon immer besonders, wenn sie wissen, was sie zu tun haben.“ Anfangs fällt es gar nicht so auf, aber dann drängt sie mit Macht nach vorn, die Erkenntnis, dass in diesem Dorf Männer keine Rolle spielen. Wenn überhaupt, dann bewegen sie sich am Rande, erfüllen Frondienste, nehmen Befehle entgegen, verhalten sich wie geprügelte Hunde. Das Sagen haben die Frauen um Gerti Drassl und Maria Hofstätter, die sich als Anführerinnen von etwas herauskristallisieren, was nie so genannt wird, aber ein vermaledeiter Hexenzirkel sein muss, wie sie unheilvollen Einfluss nehmen und auch Judith manipulieren, die sehr spät erst merkt, dass sie ein Spielball ist in einem größeren Zusammenhang, Zeit und Raum aufgehoben scheinen und nur drastische Mittel Erlösung aus dem Höllenkreis versprechen. Immer wieder taucht „Welcome Home Baby“ ein in filmische Traumwelten, verliert den Boden unter den Füßen, lässt seine Hauptfigur eintauchen, untertauchen in Wasser, Sinnbild eigentlich für Leben, für Erneuerung und Geburt.
Finster sind die Seelen österreichischer Filmemacher, die bevorzugt Untiefen des menschlichen Wesens ausloten, einer morbiden Stimmung nachhängen. So konsequent, wie das im vergangenen Jahr Veronika Franz und Severin Fiala mit „Des Teufels Bad“ getan haben (Silberner Bär für Kameramann Martin Geschlacht) und jetzt Andreas Prochaska mit diesem filmischen Parforceritt, der einem kaum Zeit gibt, kurz einmal Atem zu holen, und dann später auf der Berlinale vielleicht auch noch Johanna Moder mit ihrem gar nicht einmal komplett anderen, aber insgesamt doch feingliedrigeren Wettbewerbstitel „Mother’s Baby“ durchdeklinieren, erlebt man es indes eher selten. „Welcome Home Baby“, eine Produktion von Tommy Pridnigs Lotus Filmproduktion in Koproduktion mit Ulf Israel von der Senator Film Produktion, ist ein Erlebnis, eine ganz eigene und eigenwillige Kinoerfahrung. Dank der unnachgiebigen Inszenierung Prochaskas, manchmal regelrecht entfesselt. Dank der schonungslosen Darstellung von Julia Franz Richter, die in besagtem „Mother’s Baby“ ebenfalls zu sehen ist, in einer tragenden Nebenrolle diesmal. Dank eines penibel durchkomponierten Gesamtkonzepts, das das Panorama der 75. Berlinale mit einer Explosion startet und sich dann zunehmend steigert.
Thomas Schultze