Passend für den Pride-Monat Juni hat unser Autor Patrick Heidmann eine ganz persönliche Watchlist zusammengestellt: queere Serien, Filme und mehr, von brandneuen Produktionen bis hin zu übersehenen Geheimtipps, die sich diesen Sommer streamen lassen.
Überkompensation
(Prime Video)
In dieser autobiografisch inspirierten Comedy-Serie nimmt Content-Creator Benito Skinner nicht nur seine eigenen Erfahrungen damit aufs Korn, in jungen Jahren auf Teufel komm raus als heterosexuell durchgehen zu wollen. Sondern er amüsiert sich mit „Überkompensation“ auch über das Genre der College-Komödien und all ihre Konventionen. Das Ergebnis ist ein ziemlich deftiger, alberner und manchmal absurder Spaß mit blendend aufgelegtem Ensemble (und Wally Baram als echter Schauspiel- wie Autorinnen-Entdeckung), in dem gerade genug Platz für ein paar rührende Momente im Coming Out-Kontext bleiben.
Danach weitergucken: „Fire Island“ (Disney+), sehr queeres „Stolz und Vorurteil“-Update von Andrew Ahn und Joel Kim Booster
I, Addict
(Disney+)
Basierend auf seinen eigenen Erfahrungen hat Regisseur Javier Giner gemeinsam mit Drehbuchautor Aitor Gabilondo eine sechsteilige Serie geschaffen, die es in sich hat – und zu Recht beim Filmfestival in San Sebastián gefeiert wurde. Es ist die Geschichte eines jungen schwulen Mannes, der erst ganz am Boden ankommen muss, bevor er den Kampf gegen seine Drogen- und Alkoholabhängigkeit angehen und an seinem narzisstisch-aufbrausenden Verhalten etwas ändern kann. Diesen Überlebenskampf mitanzusehen ist schmerzhaft, voller Bitter- und Traurigkeit, aber auch schwarzem Humor, und Hauptdarsteller Oriol Pla macht ihn zu einem eindrucksvollen Erlebnis.
Danach weitergucken: „Veneno“ (OUTtv Amazon Channel), für mehr LGBTQ-Storytelling aus Spanien.
Matteo Lane: The Al Dente Special
(Disney+)
Die queere Comedy-Szene boomt seit einigen Jahren wie nie zuvor und in einem Facettenreichtum, der von Hannah Gadsby über „Saturday Night Live“-Star Bowen Yang bis hin zum geschmacklos-überdrehten „Dicks – Das Musical“ von Aaron Jackson und Joshua Sharp Platz für die unterschiedlichsten Stimmen hat. Aktueller Shooting Star in der Stand-Up-Szene ist Matteo Lane, der in diesem Jahr nicht nur ein neues Comedy-Special, sondern auch ein Kochbuch veröffentlich hat. Doch auch die jüngsten Programme von Julio Torres, Jerrod Charmichael, Sam Jay oder Tig Notaro sollte man nicht verpassen.
Danach weitergucken: „Outstanding: A Comedy Revolution“ (Netflix), eine Doku über queere Komiker*innen
Es ist nie zu spät
(VOD)
Eine der lustigsten und charmantesten Komödien der vergangenen Jahre ging in Deutschland leider völlig unter. Im Regiedebüt von Komikerin Tig Notaro und ihrer Ehefrau Stephanie Allynne brilliert niemand anderes als Dakota Johnson in der Rolle einer etwas ziellos durchs Leben treibenden jungen Frau, die sich einigermaßen spät erst einzustehen beginnt, dass sie nicht unbedingt auf Männer steht, während gleichzeitig ihr engste Freundschaft auf eine Bewährungsprobe gestellt wird. Ein Film voll funkelndem Dialogwitz und Wahrhaftigkeit, in dem neben Johnson auch Sonoya Mizuno begeistert.
Danach weitergucken: „Booksmart“ (MGM+ & VOD), noch eine Komödie mit queeren Protagonistinnen, die ein größeres Publikum verdient hätte
Femme
(VOD)
Die Liste der queeren Filme, die es hierzulande nicht ins Kino schaffen, ist bedauerlich lang. „Housekeeping For Beginners“, „Layla“, „Bottoms“ oder „In the Summers“ sind nur einige höchst unterschiedliche Highlights, die an dieser Stelle empfohlen seien, falls man sie irgendwo zu Gesicht bekommt. Die große Leinwand besonders verdient gehabt hätte „Femme“ von Sam H. Freeman und Ng Choon Ping. Denn der energiegeladene Rachethriller über Drag-Performer Jules und den ungeoutet-homophoben Schläger Preston hat mit Nathan Stewart-Jarrett und George Mackay nicht nur zwei exzellente Hauptdarsteller zu bieten, sondern auch eine ausgesprochen stylishe Bildgestaltung.
Danach weitergucken: „I Saw the TV Glow“ (Netflix), noch eine echte Filmperle, die man gerne im Kino gesehen hätte
Schwarze Früchte
(ARD Mediathek)
Muss man noch einmal eine Serie empfehlen, die vor genau einem Jahr beim Tribeca Filmfestival Premiere feierte und bereits für den Grimme-Preis nominiert wurde? Klar, denn „Schwarze Früchte“ hat jedes bisschen Aufmerksamkeit verdient. So besonders, so eigenwillig, so komplex und so sehenswert wie die von Hauptdarsteller Lamin Leroy Gibba erdachte Geschichte des Mittzwanzigers Lalo sind deutsche Serien selten. Und noch seltener erzählen sie so dezidiert nicht nur von Freundschaft und Selbstfindung, sondern vor allem von Queerness und Schwarzen Alltag.
Danach weitergucken: „Hundefreund“ (ARD Mediathek), Gibbas preisgekrönter, ähnlich starker Kurzfilm
Sort Of
(Wow)
Autofiktionales Erzählen in Form von tragikomischen Serien boomt, und gerade queere Künstler:innen verarbeiten auf diese Weise ihre eigenen Erfahrungen mit viel Witz und Wahrhaftigkeit. Man denken nur an „Please Like Me“, „Special“, „Feel Good“ oder „Work in Progress“. Ein besonderer Höhepunkt in diesem Genre ist diese drei Staffeln umfassende kanadische Serie von und mit Bilal Baig, hier zu sehen als Sabi, nicht-binärer Spross einer pakistanisch-kanadischen Familie mitten in der Selbstfindung. Sehr witzig, sehr berührend.
Danach weitergucken: „Somebody Somewhere“ (Wow) von und mit Bridget Everett und ihrer queeren Wahlfamilie.
About Sasha
(Disney+)
Diese Serie der Französin Yaël Langmann gehört zu den Überraschungen der letzten paar Jahre: die Coming of Age-Geschichte von Sasha, 17, intersex und gerade mit der Familie aus der Großstadt in die Provinz gezogen, wo sie fortan als Mädchen wahrgenommen werden möchte. Mit ebenso viel Feingefühl wie Lässigkeit nimmt sich „About Sasha“ eines hochkomplexen Themas an – und Hauptdarstellerin Angèle Metzger brilliert im Spannungsfeld von Verletzlichkeit und Wut, Melancholie und Coolness. Absolut sehenswert!
Danach weitergucken: „Mutt“ (VOD), ein ähnlich aufwühlendes Drama mit Familienbezug und über einen jungen trans Latino.
Will & Harper
(Netflix)
Als die Freundschaft von Will Ferrell und Harper Steele begann, waren beide noch bei der legendären Comedy-Show „Saturday Night Live“, Ferrell vor und Steele im Autor:innen-Team hinter der Kamera. Inzwischen lebt Steele befreit und selbstbestimmt als trans Frau – und ihr alter Freund hat zwar keine Berührungsängste, aber doch ein paar Fragen. Wie dieses Duo auf einem Roadtrip durch die USA nicht nur die eigene Beziehung durchleuchtet, sondern persönliche Veränderungen und gesellschaftspolitische Realitäten bespricht, macht aus „Will & Harper“ von Josh Greenbaum einen rührenden und angenehm ehrlichen Dokumentarfilm, der nichts schönredet.
Danach weitergucken: „Kokomo City“ (Mubi), ein vollkommen anderer, aber ebenso sehenswerter Dokumentarfilm über trans Frauen.
The Watermelon Woman
(Mubi)
Wenn vom New Queer Cinema der 1990er Jahre die Rede ist, dann geht es sehr oft um Todd Haynes, Gregg Araki und Co. Doch zu den einflussreichen modernen Klassikern jener Zeit gehört auch „The Watermelon Woman“ von Cheryl Dunye. Die Komödie über eine lesbische Videothekarin, die an einem Film über Schwarze Schauspielerinnen der 30er und 40er Jahre arbeitet und nebenbei allerlei neue private Erkenntnisse gewinnt, entstand mit einem Mini-Budget von 300.000 Dollar und wurde zur Premiere auf der Berlinale 1996 mit dem Teddy Award ausgezeichnet. Inzwischen gehört der Film zur festen Sammlung des MoMA in New York und zum National Film Registry der Library of Congress.
Danach weitergucken: „Born in Flames“ (Mubi), ein weiterer komödiantischer Klassiker des lebischen Kinos, inszeniert von Lizzie Borden
Ausgewählt und getextet: Patrick Heidmann