Heute Abend startet die neue Diagonale-Doppelspitze Dominik Kamalzadeh & Claudia Slanar ihr erstes Festival in Graz. Über ihre kuratorische Handschrift, Herausforderungen und das aktuelle österreichische Filmschaffen sprechen sie hier.
Sie beide bilden die neue Doppelspitze der Diagonale, Österreichs wichtigstem Filmfestival für lokale Produktionen. Die Veranstaltung ist Ihnen bestens vertraut, Frau Slanar, Ihnen, weil Sie bereits viele Jahre den Wettbewerb Innovativer Film mitkuratiert haben, Herr Kamalzadeh, Ihnen, weil Sie das Festival jahrelang als Filmkritiker des Standard begleitet haben. Sie selbst bezeichnen sich als „Diagonale Natives“. Dennoch ist es nun sicherlich etwas anderes, am Steuerruder dieser Veranstaltung zu stehen. Mit welchen Vorsätzen sind Sie beide angetreten?
Claudia Slanar: Wir sind mit zwei Vorsätzen angetreten. Die eine Bewegung geht nach außen, um die Diagonale international zu öffnen, eine stärkere Internationalisierung hervorzurufen – einerseits für die Branche, damit sie sich stärker vernetzen kann, andererseits um Positionen bzw. ästhetische Verfahren und Praxen nach Österreich zu holen, von denen wir denken, dass sie auch für die österreichische Filmlandschaft interessant sein könnten, und Themen behandeln, die uns alle im gesamteuropäischen Zusammenhang betreffen. Die andere Bewegung, die wir anstreben, geht nach innen. Wir wollen regional etwas bewirken und die Diagonale auch außerhalb des Festivalzeitraums in der Region stärken mit verschiedenen Initiativen in der Steiermark. Dies können Kooperationen mit Kunsteinrichtungen sein oder auch mit Kinos. Uns geht es darum, den österreichischen Film in der Steiermark als Region besser zu verankern.
Was waren die größten Herausforderungen bei der Organisation Ihrer ersten Diagonale?
Dominik Kamalzadeh: Die Herausforderung stellt sich in meinen Augen über mehrere Jahre, weil man an der Idee der Weiterentwicklung des Festivals nur schrittweise arbeiten kann. Wir müssen uns mit unseren Überlegungen und Wünschen im ersten Jahr fast ein bisschen zähmen. Es bringt nichts, Dinge übers Knie zu brechen. Dazu kommt, dass Claudia und ich natürlich diesen Insider:innen-Blick noch nicht hatten, obwohl wir die Diagonale gut kennen. Als Festivalleiter-Duo lernt man die Struktur kennen und soll sie im selben Moment ein stückweit in Frage stellen. Das ist auch eine Art produktive Überforderung. Die heurige Diagonale ist ein erster Versuch, uns einzubringen, unsere Vorhaben zu übersetzen. Es wird aber sicher noch zwei Ausgaben brauchen, bis wir uns stärker strukturell in das Festivalformat eingeschritten haben.
Ihnen sind Austausch und Auseinandersetzung wichtig, auch soll ein Festival „wildes Denken“ ermöglichen. Was genau meinen Sie damit?
Dominik Kamalzadeh: Es geht ein bisschen darum, das Festival-Tun out of the box zu denken. Das beginnt bei den Formaten selbst, indem wir gesagt haben, dass nicht alles im Kino stattfinden muss, sondern dass wir auch aus dem Kino herausgehen können. Es gibt unter anderem einen Expanded Cinema Abend im Heimatsaal oder die Ausstellung von Lisl Ponger im Atelierhaus Schaumbad, die wiederum in Verbindung zu ihren Filmen steht. Aber es geht ja noch weiter. „Die erste Schicht“, die Position zu Arbeitsmigration, geht auch in diese Richtung, weil wir damit die Frage stellen wollen, was ein nationales Archiv eigentlich ist und ob ein nationales Archiv nicht mittlerweile transnational gedacht werden muss. In diesem historischen Special sind Filme inkludiert, die im Kanon gewissermaßen noch nicht berücksichtigt worden sind. Wir haben uns auf eine Entdecker:innen-Fahrt begeben, bei der wir selbst noch nicht genau wussten, wo man landen wird.
Wie viel Einreichungen gab es und wie hat sich für Sie die Programm-Erschaffung gestaltet?
Claudia Slanar: Es gab ca. 550 Einreichungen insgesamt, gegliedert einerseits in die unterschiedlichen Gattungen wie Dokumentar-, Spielfilm, innovatives Kino oder Animation. Und andererseits in die verschiedenen Formate Lang-, Kurz- und mittellange Filme. Bei den langen Formaten haben Dominik und ich gemeinsam gesichtet und die Auswahl getroffen. Für die Kuratierung der kurzen und mittellangen Formate haben wir ein dreiköpfiges Komitee eingeladen, mit dem wir gemeinsam gesichtet haben. Die Neuerung war, dass wir diese Jury international zusammengestellt haben, nämlich mit Matthias Lerf, einem Filmkritiker und Publizisten aus der Schweiz, der österreichischen Kuratorin Djamila Grandits und der in Berlin lebenden Filmemacherin und Produzentin Alex Gerbaulet, und dass wir in diesem Team über alle Gattungen hinweg gesichtet haben. Uns war wichtig, dass es einen möglichst diversen Blick über den Tellerrand auf diese Filmproduktionen gibt.
In der Programmankündigung haben Sie verschiedene Schwerpunkte angesprochen. Haben sich diese Cluster natürlich ergeben?
Claudia Slanar: Die haben sich tatsächlich erst nach der Auswahl ergeben. Wir sind in die Filmsichtung nicht mit dem Blick hineingegangen, nach Themen wie Ökologie, Nachhaltigkeit oder Care zu suchen. Vielmehr haben wir die Filme kuratiert und dann im Anschluss festgestellt, dass sich an verschiedenen Stellen programmatische Leitlinien, rote Fäden ergeben. Das war eine wunderbare Entdeckung. Es fallen mir immer wieder noch neue Facetten und Fäden auf. Das Interessante am Kuratieren ist, wenn filmische Arbeiten miteinander zu kommunizieren beginnen. Das entdeckt man, je mehr man sich mit dem Programm beschäftigt.
Dominik Kamalzadeh: Dieses Untereinander-Kommunizieren findet interessanterweise nicht nur innerhalb des Wettbewerbs statt. Sondern unbeabsichtigt auch zwischen den Positionen, den Spezialprogrammen. Gerade was die schon erwähnte „erste Schicht“ anbelangt, ist die Frage, wie Migration die Gesellschaft geformt und verändert hat, eine Art Leitmotiv für das gesamte Festival geworden.
Christoph Hochhäusler ist mit einer Werkschau zu Gast. Gezeigt werden fast alle seine Filme, darunter „Die Lügen der Sieger“ (Credit: Martin Menke)
Was fällt Ihnen im aktuellen österreichischen Filmschaffen auf?
Dominik Kamalzadeh: Mit einer spontanen Antwort bleibe ich auf diese Frage sicherlich kursorisch. Uns hat auf alle Fälle die Vielfalt an stilistischen Zugängen verblüfft, über alle verschiedenen Gattungsbereiche hinweg. Beim Kurzspielfilm etwa werden Themen aufgegriffen, die sehr virulent sind. Es herrscht hier kein Akademismus, und man hat keine Sekunde lang das Gefühl, die jungen Filmemacher:innen würden sich nur an bestimmten Topoi abarbeiten, die bereits etabliert und deswegen ranzig sind. Sowohl die etablierten als auch die neuen Talente sind sehr alert und reagieren sensibel auf Fragen der Gegenwart. Ein tolles Beispiel von vielen ist der Kurzspiefilm „Besser so“ von Lotta Schweikert. Es ist super interessant, wie darin einerseits dieses jungen Menschen naheliegende Thema des politischen Umweltaktivismus aufgegriffen, andererseits dann aber dazu eine verblüffende Negativposition eingenommen wird. Das öffnet zugleich wieder sehr viel.
Hängt Ihr Herz nach wie vor am innovativen Film, Frau Slanar?
Claudia Slanar: Einerseits ja, weil es die Vorprägung durch meine langjährige Zugehörigkeit zur Auswahlkommission gibt; andererseits ist es so, dass sich Dominiks und meine Interessen für experimentelle Formen einfach gut mit einer generellen Offenheit verbinden. Die experimentellen Formen ziehen sich durch alle Bereiche des Programms hindurch. Es ist interessant, dass wir viele Filme haben, die Gattungen überschreiten, Gattungsgrenzen hinterfragen, egal ob im Dokumentarfilm oder Spielfilm.
Dominik Kamalzadeh: Oft wird man geshapet, gelabelt, abgestempelt auf eine gewisse filmische Form, obwohl man das gar nicht will. Als ich zur Auswahlkommission der Duisburger Filmwoche gehörte, habe ich mich irgendwann in der Rolle des strengen Formalisten wiedergefunden.
Sie sagen, Filmfestivals sind heute notwendiger denn je. In einer Ära des Überangebots an „Content“ dienen sie als Lotse durch das qualitative Kinoangebot eines Jahrgangs. Können Sie das präzisieren?
Dominik Kamalzadeh: Das ist natürlich ein stückweit idealistisch formuliert und folgt dem Denken von Martin Scorsese, der sich vor ein paar Jahren vehement gegen das Prinzip des Algorithmus ausgesprochen hat. Der Algorithmus ist kein Kurator, der Algorithmus ist eine ökonomische Maschine, die uns in der Bubble lässt und der der Moment der Kreativität fehlt. Festivals sind dagegen Orte, wo Menschen eine Auswahl vornehmen und damit Angebote erstellen. Das ist was nach wie vor etwas Wichtiges.
Ein Filmfestival muss auch finanziert werden. Steht die Diagonale auf soliden finanziellen Beinen? Und wie schwer oder leicht finden sich (neue) Sponsoring-Partner:innen?
Claudia Slanar: Die Diagonale basiert einerseits auf einem Fördersystem, das in Österreich sehr gut aufgestellt ist, ist andererseits aber auch auf Sponsor:innen und Partner:innen angewiesen. Wir haben teilweise Mehrjahresverträge, die uns auf gewisse Art und Weise auf solide Beine stellen. Man darf aber dabei die hohen Inflationsraten der letzten Jahre und ebenso die Teuerungen nicht unterschätzen, die Waren wie auch in Folge Dienstleistungen betroffen haben. Was das Sponsoring betrifft, haben wir noch starke Partner:innen. Aber es ist die Tendenz spürbar, dass sobald die Zeiten schlechter werden, das ökonomische Wachstum nicht so hoch ist wie prognostiziert, die Sponsoren sich eher zurückziehen und nicht mehr so viel Kunst und Kultur fördern.
Dominik Kamalzadeh: Die Unwägbarkeiten, was Sponsoring betrifft, sieht man auch in Toronto oder der Berlinale. Auch politische Verhältnisse sind unwägbar. Man darf sich mit nichts zu sicher sein.
Das österreichische Kino erzielte 2023 sehr gute Zahlen hinsichtlich der Ticketverkäufe. „Griechenland“, „Der Fuchs“, „Pulled Pork“, „Neue Geschichten vom Franz“… alles sehr kommerzielle Titel. Gehört das kommerzielle Kino auch in Ihren Festivalgedanken?
Dominik Kamalzadeh: Ich will nicht zwischen E und U unterscheiden, weil ich einem Kinoverständnis folge, das im besten Falle ganz vieles inkludiert. Natürlich wählen wir aus. Einer der Festivaldirektoren, die mich am meisten geprägt haben, war Marco Müller, der die eklektizistischsten Wettbewerbe kuratiert hat und Straub-Huillet neben Paul Verhoeven und europäischem Autorenkino gesehen hat. Andererseits gibt es ökonomische Realitäten, die gerne als Politikum genutzt werden, gerade wenn es um Förderdiskussionen geht. Unsere Entscheidung, eine umfassende Werkschau von Christoph Hochhäusler zu zeigen, folgt der Idee, einen Autor zu präsentieren, der vielleicht nicht die großen Massen anspricht, aber dennoch einem Verständnis von Kino folgt, das das Populäre immer mitbedenkt.
Wenn am 4. April nun der Vorhang aufgeht für die 27. Diagonale in Graz: Auf was freuen Sie sich am meisten?
Claudia Slanar: Ganz besonders freuen wir uns auf die Reihe „Die erste Schicht“. Da sind tolle Filme dabei, die auf sehr ungewöhnliche Art und Weise mit dem Thema der Arbeitsmigration umgehen. Und allgemeiner formuliert werden wir uns freuen, wenn das Festival Zuspruch erhält, wenn wir sehen, ein Publikum setzt sich Experimenten und neuen Blickweisen aus, diskutiert oder streitet womöglich – was auch ok ist.
Dominik Kamalzadeh: Ich bin gespannt und voller Neugierde auf das Miteinander, auf die Begegnungen, die ein Festival so lebendig machen.
Barbara Schuster