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Xavier Giannoli: „Kein Schuldgefühl zu haben, ist das Ende der Welt“

Xavier Giannoli hat die sehenswerte True-Crime-Serie „Of Money and Blood“ über einen Jahrhundertbetrug gemacht, die jetzt auf Magenta TV gestartet ist. Der profilierte Regisseur und Dauergast in Cannes spricht darüber, warum dieser Stoff sein allererstes Serienprojekt wurde.

Xavier Giannoli und Of Money and Blood
Xavier Giannoli (l.) und seine Serie „Of Money and Blood“ (Unifrance, Canal+)

Der profilierte französische Filmemacher Xavier Giannoli („Chanson d’amour“, „Die Erscheinung“) hat mit „Of Money and Blood“ seine erste Serie gedreht. Eine unterhaltsame, episch in zwölf Episoden erzählte Crime-Serie über den „Betrug des Jahrhunderts“, wie ihn französische Journalisten bezeichneten: einen milliardenschweren Kohlendioxidsteuerbetrug nach dem Sachbuch des Journalisten Fabrice Arfi. In den Hauptrollen spielen unter anderen Vincent Lindon, Niels Schneider und Ramzy Bedia. Die unterhaltsame Serie ist jetzt in Deutschland auf Magenta TV zu sehen.

„Of Money and Blood“ war Ihr allererstes Serienprojekt. Wie war die Erfahrung für Sie als Kinofilm-Regisseur?

Xavier Giannoli: Ich habe die Erfahrung geliebt, eine Serie mit zwölf Episoden zu drehen, weil man so die Zeit hat, alle Charaktere zu erforschen. Ich mochte den Wechsel zwischen der Tatsache, dass die Serie auf der ganzen Welt spielt, aber auch viele intime, kleinere Szenen zwischen den Figuren hat. Wir sagten uns: Lasst uns aus dieser Serie im besten Fall Kunst machen. Als ich mich zu Beginn des Projekts das erste Mal mit Canal+ traf, hatte ich die Angst, dass sie mir viele Vorgaben hinsichtlich eines Happy Ends oder Cliffhanger machen würden. Aber sie sagten mir: Mach das, was du mit dieser Geschichte machen willst. Umso besser, wenn es dabei originell wird. Mit diesem Gefühl der Freiheit ging ich an das Projekt heran.  

War es für Sie eine Herausforderung, zwölf Episoden zu schreiben?

Xavier Giannoli: Nein, ich liebe die Arbeit. Es gibt keinen Ort, wo ich glücklicher bin als in meinem Büro. Auch bei meinen Filmprojekten sitze ich dort ohne Probleme bis zu 15 Stunden am Tag vor dem Computer, habe meine Tausenden von Büchern, höre Musik, schaue zwischendrin in Filme rein, die mich inspirieren. Für mich war dieses Serienprojekt eine gute Art und Weise, diesen Prozess zu verlängern. Ich liebe den Schreibprozess. Bei meinem vorherigen Film „Verlorene Illusionen“ war die Balzac-Vorlage, die ich in- und auswendig kenne, so lang. Er schrieb dieses riesige Werk innerhalb von zwei Tagen. Ich dagegen versuche nur mein Bestes.

War „Of Money and Blood“ immer als Serienprojekt gedacht?   

Xavier Giannoli: Ja, von Anfang an. Es gibt die bekannte Buchvorlage des französischen Journalisten Fabrice Arfi, der wie ein US-amerikanischer Investigativ-Journalist diesen Fall recherchierte. Es war offensichtlich, dass aus dieser Geschichte kein Film, sondern eine Serie entstehen musste, weil es zu viele Charaktere und Hintergrundinformationen über Makroökonomie, Politik und das Finanzwesen gibt.

Wie kamen Sie zu der Buchvorlage?

Xavier Giannoli: Durch viele Zeitungsartikel. Das Ganze gilt als Jahrhundertbetrug, bei dem bis heute nicht klar ist, wie viel Geld genau entwendet wurde. Man schätzt das Ganze auf 1,5 Milliarden Euro. Als ich mit Ermittlern sprach, habe ich auch schon die Schätzung von 10 Milliarden gehört. Niemand will genau wissen, wie viel Geld auf diese Weise geklaut wurde. Ich las Fabrice Arfis Buch und wusste sofort, dass es eine wunderschöne Geschichte war.

Of Money and Blood
Ramzy Bedia in „Of Money and Blood“ (Credit: Canal+)

Wonach suchten Sie die Protagonisten der Serie aus?

Xavier Giannoli: Ich orientierte mich am Buch. Zwei der Gruppe kommen aus Belleville, was als Pariser Viertel eine Art Bronx ist, wo viele Menschen einen tunesischen Migrationshintergrund haben. Der Dritte kommt aus dem 16. Arrondissement, wo die Bessergestellte leben. Im Buch spricht der Autor Fabrice Arfi als Ermittler. Aber ich wollte nicht wieder einen Journalisten als Hauptfigur, weil ich schon so viele Filme mit Journalisten im Mittelpunkt der Geschichte machte. Mein Vater war nämlich Journalist. Mich interessierte, dass es heute einfacher ist, Geld über den Computer zu stehlen als mit einem richtigen Banküberfall.

Aber es muss eine Ihrer größten Herausforderungen gewesen sein, eine Serie sexy und unterhaltsam zu erzählen, die von milliardenschweren Kohlendioxidsteuerbetrug erzählt.

Xavier Giannoli: Es war der Schlüssel zu der Geschichte und meine Haupt-Herausforderung, Unterhaltung aus diesem Thema zu machen. Ich musste an eine wunderschöne lange Szene aus dem Oliver-Stone-Film „JFK“ denken, bei der die Ermittler alle zusammen essen und das erste Mal über Lee Harvey Oswald sprechen. Die Szene geht vielleicht acht bis neun Minuten. Es ist nur ein Raum mit Menschen, die sprechen. Aber es gibt gefühlt tausend verschiedene Einstellungen. Während sie sprechen, entblättert sich die gesamte Geschichte vor den Augen des Publikums. Allein aus Sicht eines Editors ist diese Szene großartig. Wenn ich also in einer Szene einen Mann vor einem Computer sitzen habe, inszeniere ich nicht nur das, sondern alles, was auch darum passiert. Ich zeige, was parallel auf der Welt passiert, währen der Mann am Computer sitzt. Die Buchvorlage ist an den Charakteren interessiert. Mich interessierten die Schattenseiten der Figuren und wie die moderne Gesellschaft durch diese Figuren spricht. Ich denke, gerade heute ist die Fiction prädestiniert dafür, Wahrheiten über diese Welt aufzudecken. Wichtige Referenzen für mich bei der Serie waren Filme wie „Traffic“ und „The Limey“ von Steven Soderbergh und Michael Manns „The Insider“.   

Warum ist gerade die Fiction prädestiniert, Wahrheiten über die Welt heute zu zeigen?

Xavier Giannoli: Heutzutage ist es in Frankreich schon schwierig, sich über klare Sachverhalte einig zu sein. Es gibt keine Fakten mehr, sondern nur noch Meinungen. Ich habe über diesen Crime-Fall viele Akten gelesen. Es war verrückt, wie die Anwälte gegeneinander argumentierten. Die Fiction ist eine gute Methode, Teile der Realität und – für mich persönlich auch – eine tiefere Wahrheit einzufangen. Ich liebe zum Beispiel den US-Autor Philip Roth, weil ich bei ihm andere Informationen in einem Roman finde als in der Tageszeitung, wenn es um die amerikanische Gesellschaft geht. Meiner Meinung nach brauchen wir Fiction so sehr wie vielleicht noch nie, um die Realität der Welt emotional zu verstehen.

Wie meinen Sie das konkret?

Xavier Giannoli: Durch diesen Betrug der drei jungen Männer, die ohne moralischen Kompass Geld, Reichtum und Frauen wollen und der bei „Of Money and Blood“ im Zentrum steht, spricht für mich die moderne Gesellschaft. Der von Vincent Lindon gespielte Ermittler denkt in der Serie darüber nach, was Gut und Böse ist. Die vor ihm sitzenden drei jungen Männer sind die moderne Welt ohne Schuldgefühl. Ich halte Schuldgefühl für wichtig. Ich habe nie an das Credo der Revolution von 1968 geglaubt, dass wir kein Schuldgefühl mehr brauchen. Kein Schuldgefühl mehr zu haben, ist das Ende der Welt. Sich schuldig zu fühlen, wenn man etwas Falsches tut: In meinen Augen ist das der Beginn der Zivilisation. Aber das interessierte mich auch an den jungen Protagonisten, dass sie eben nicht diese Schuld während ihrer Taten und auch nicht danach fühlten.      

Das Interview führte Michael Müller