Am 30. Januar startet die 54. Ausgabe des International Film Festival Rotterdam. Wir haben uns mit der Künstlerischen Leiterin Vanja Kaludjercic über die Kuratierung, ihr Netzwerk, die Wichtigkeit, Filme aus Ländern einzuladen, die zu wenig Sichtbarkeit bekommen, und das deutsche Kino unterhalten.

Das kommende International Film Festival Rotterdam ist die fünfte Ausgabe unter Ihrer Künstlerischen Leitung. Inwiefern ist es Ihnen gelungen, das Festival zu Ihrem Festival zu machen, Ihre Handschrift zu hinterlassen?
Vanja Kaludjercic: Das ist eine große Frage, weil es so viele Dinge dabei zu berücksichtigen gilt und ich mit der künstlerischen Leitung eines Festivals wie des IFFR auch ein großes Erbe angetreten habe. 2025 feiern wir die bereits 54. Ausgabe! Abgesehen davon, dass ich meinen Job in turbulenten Zeiten aufgrund der Coronapandemie angetreten habe und das Festival bei meiner ersten Ausgabe nicht wie üblich stattfinden konnte, fiel mir als allererstes die Aufgabe zuteil, die 50. Jubiläumsausgabe auszurichten. Es ging in erster Linie darum, auf die Geschichte des Festivals zu blicken, wie es in all den Jahren Form angenommen hat, sich zu einem Festival entwickelt hat, das sich von anderen unterscheidet. Das IFFR ist damals mit einer einfachen Mission angetreten, Filme auf die große Leinwand zu holen, die in den Niederlanden und vielen anderen Teilen Europas sonst nie in die Kinos kommen würden, Filme aus anderen Ländern, anderen Weltteilen, und damit die Reichhaltigkeit des Weltkinos zu feiern. Dieses große Erbe kann man nicht einfach ausklammern, wenn man die künstlerische Leitung übernimmt.
Um was geht es Ihnen?
Vanja Kaludjercic: Wenn ich die programmatische Seite des Festivals betrachte, folge ich dem eingeschlagenen Weg und frage mich: Welches Kino hat keine großen Chancen zu reisen? Wo gibt es wunderbare Produktionen, die wenig Möglichkeiten haben, auf Filmfestivals weltweit zu Leben zu erwachen? Natürlich bringt man als künstlerische Leitung auch eine eigene Form mit, aber ich würde schon sagen, dass ich der ursprünglichen Mission des IFFR treugeblieben bin. Das IFFR bedient in gewisser Weise eine Nische, hat aber auch Programme, die ein großes Publikum ansprechen. Deshalb konnte es sich über die Jahre zu einem riesigen Event in der Stadt entwickeln. Sogar zu einem der größten Events, wenn nicht sogar das größte Event der Niederlande. Wenn ich heute auf das Festival blicke, ist in meinen Augen die richtige Balance gegeben. Du kommst zum Festival und fühlst dich aufgehoben. Vielleicht nicht in jedem einzelnen Segment. Dafür ist es einfach zu riesig. Aber das IFFR strahlt diese Balance aus von Entdeckungen, Arthouse über den Experimentalfilm und Avantgarde-Kino, das v.a. in unseren kuratierten Kurzfilmen zu finden ist, hin zur eher klassischen Form. Dabei sind immer die Länder berücksichtigt, die unserer Ansicht nach zu wenig Sichtbarkeit bekommen. Ich bin sehr stolz darauf, was wir in den vergangenen fünf Jahren hinsichtlich des indischen Kinos erreicht haben. Das IFFR ist mittlerweile eines der wichtigsten Festivals für den indischen Film außerhalb Indiens geworden.
Dieses Jahr blicken Sie auf das indonesische Kino…
Vanja Kaludjercic: Die Schritte, die wir mit dem indischen Kino gegangen sind, gehen wir nun mit dem indonesischen Kino. Das hat zuallererst historische Gründe und ist auch den engen Banden zwischen den Niederlanden und Indonesien geschuldet. Es existiert eine große Community hier in den Niederlanden. Indonesien hat eine sehr reichhaltige Filmkultur, die es aber auch kaum ins Ausland schafft. Auch das japanische Kino liegt mir sehr am Herzen. Wenn man in alle Programmteile blickt, auch in unsere Specials und Schwerpunkte, bin ich einfach sehr stolz, was mein Team und ich zusammengestellt haben.
„Mir geht es darum, einen Platz zu schaffen für den Kanon des Kinos, und damit ein großes Publikum zu begeistern.“
Auch hier beleuchten Sie stets eher Ungewöhnliches…
Vanja Kaludjercic: Jedes Special oder jeder Fokus ist einem Filmschaffenden oder einem Thema gewidmet, von dem wir der Meinung sind, dass er oder sie bzw. es zu wenig durchdrungen wurde bzw. zu wenig Beachtung fand, in Folge noch nie in diesem Ausmaß gezeigt wurde. Hier wollen wir einzigartig sein. In diesem Jahr legen wir in unserer Retrospektive ein Schlaglicht auf die kroatisch-deutsche Filmemacherin Katja Raganelli, die zwar hauptsächlich fürs Fernsehen gearbeitet hat, aber unheimlich wichtige Arbeit geleistet hat mit ihrer Chronik weiblicher Filmschaffender des 20. Jahrhunderts. Ebenso wird auch der ukrainische Filmemacher Sergii Masloboishchykov mit einer Retro geehrt. Er ist in seiner Heimat berühmt, hatte beim IFFR vor 30 Jahren seinen Debüt-Spielfilm präsentiert. Dem Schaffen dieser Menschen gilt es, eine größere Sichtbarkeit zu schenken. Als Thema beschäftigten wir uns dieses Jahr mit VHS. In einem Focus feiern wir die VHS-Kultur. Mir geht es darum: ein Angebot zu schaffen, eine spezielle Sichtweise, einen Einblick zu geben, einen Platz zu schaffen für den Kanon des Kinos, und damit ein großes Publikum zu begeistern.
Als künstlerische Leiterin eines Festivals, das ungehobene Schätze aus der ganzen Welt zusammenträgt, kommt es auf das richtige Netzwerk an. Wie darf man sich Ihre kuratorische Herangehensweise vorstellen?
Vanja Kaludjercic: Das ist ein guter Punkt. Wir picken zum Großteil nicht Filme aus, die bereits wo anders gezeigt wurden – wobei wir auch Filme zeigen, die anschließend einen Kinostart, bereits einen Verleih haben. Aber das ist nur ein Bruchteil. Die anderen Titel müssen von irgendwoher kommen. Und es ist nicht so, dass die bei uns anklopfen. Genau das ist der Unterschied. Wenn man nur die Filme nimmt, die von selbst eingereicht werden, bleibt man im selben Ökosystem verhaftet. Uns zeichnet aus, dass wir offen sind, mir geht es um Achtsamkeit hinsichtlich der Porosität. Das ist der Schlüssel. Zum einen ist unser Alumni-Netzwerk riesig, nicht nur durch das Filmprogramm, sondern auch durch Industry-Angebote wie den Hubert Bals Fund, über den bereits zahlreiche Projekte gefördert werden konnten. Zum anderen gibt es schöne Beispiele, wie sich Dinge weiterentwickeln, etwa durch den Fokus auf das Tamil Nadu Cinema, vor ein paar Jahren, als ich noch gar nicht beim IFFR war. Die Verbindung hat Bestand, Filmemacher von dort kommen weiter gerne nach Rotterdam, 2021 haben wir „Pebbles“ von Vinothraj P.S. eingeladen, der dann den Tiger-Wettbewerb gewonnen hat und sogar Indiens Oscareinreichung wurde (sein zweiter Film war auf der Berlinale). Wir wollen solchen Filmen, diesen Filmschaffenden eine Plattform bieten, ohne Stempel zu verteilen. Es gibt nicht DEN IFFR-Film, wir wollen nicht mit Schubladen arbeiten, wir wollen offen sein für alle Formen des Kinos, ja, auch für Kunstformen, die über die Leinwand hinausgehen. Dafür steht das IFFR.
„Wir haben sage und schreibe 62 Produktionen über das ganze Line-up verteilt im Programm, bei denen Deutschland an Bord ist“
Bekommen Sie all die Filme, die Sie haben wollen?
Vanja Kaludjercic: Wir konnten das Programm für diese Ausgabe sehr früh abschließen, bereits Ende November waren wir fertig. Die Einreichungen waren hoch wie immer. Es ist klar, dass es im ersten Jahresviertel auch Konkurrenz unter Festivals gibt. Das lässt sich nicht vermeiden. Es gibt immer eine gewisse Anzahl an Filmen, die um die drei Festivals zum Jahresauftakt – Berlinale, Sundance, Rotterdam – zirkulieren. Manche von denen kommen zu uns, andere gehen zu den anderen. Das ist ganz normal. Wir hatten nie ein Problem, genug Filme zu bekommen, selbst in den schwierigeren Zeiten der Coronapandemie, als viele Produktionen gestoppt werden mussten. Als ich angetreten bin, habe ich die Anzahl der Filme insgesamt etwas reduziert, das war eine kuratorische Entscheidung, um den einzelnen Filmen die nötige Sichtbarkeit zu geben. Das hatte nichts mit Covid oder einem Mangel an Filmen zu tun.
Welchen Stellenwert hat das deutsche Filmschaffen für Sie, bzw. Deutschland als Filmland? Der diesjährige Eröffnungsfilm ist eine deutsche Koproduktion und im Tiger-Wettbewerb läuft Tim Ellrichs „Im Haus meiner Eltern“…
Vanja Kaludjercic: Deutschland ist ein Land, das viel koproduziert. Beim 54. IFFR haben wir sage und schreibe 62 Produktionen über das ganze Line-up verteilt im Programm, bei denen Deutschland an Bord ist. Bei einigen ist Deutschland majoritärer Produktionspartner, bei vielen aber minoritär. Das zeichnet die deutsche Filmwirtschaft auch aus, dass sie ein konstanter Koproduktionspartner ist. Was Tims Film „Im Haus meiner Eltern“ betrifft, war das einfach ein No Brainer. Diese Reife an Filmemachen, er bringt eine Schärfe und Genauigkeit für so ein kompliziertes, schwieriges Familienthema mit, das in Verlängerung auch Gruppendynamiken untersucht. Wir konnten nicht glauben, dass das ein Abschlussfilm ist. Da mussten wir gar nicht lange überlegen. Die Zusage haben wir ihm sehr früh erteilt.
Was fällt Ihnen allgemein auf, am Filmschaffen in diesem Jahrgang?
Vanja Kaludjercic: Das ist eine große Frage. Wir schauen so unglaubliche viele Filme. Viele beschäftigten sich mit der politischen Situation ihrer Länder, Themen wie dem Klimawandel… Die Frage nach Identität ist auffällig. Genau das Eintauchen in Geschichte, die Geschichte verbunden mit Politik. Es hängt immer davon ab, aus welcher Region ein Film kommt. Wenn ich etwa unseren Eröffnungsfilm hernehme, „Fabula“ von Michiel ten Horn, der eine wirklich große niederländische Produktion ist – mit erheblichem Support aus Deutschland. Der Film spielt in der Provinz Limburg, der südlichsten aller niederländischen Provinzen, was für das niederländische Kino ein toller Schauwert ist. Darauf freue ich mich sehr. Genauso von großer Bedeutung ist unser Abschlussfilm, der historische Thriller „The City is a Battlefield“ von Mouly Surya, eine indonesisch-niederländische Koproduktion, die sich mit der Kolonialgeschichte der Niederlande befasst. Durch das gemeinsame Produzieren von Filmen erhalten wir ganz unterschiedliche Sichtweisen und Einblicke in Dinge, gerade bei geschichtlichen Themen. Historie ist sowieso ein wichtiger Bestandteil des IFFR, reflektiert in unserer Sektion Cinema Regained, die von dem deutschen Programmer Olaf Möller kuratiert wird. Dadurch erhalten wir ein umfassenderes Verständnis für die Welt, in der wir leben.
Sie haben tolle Gäste in Ihrem Talks-Programm. Erzählen Sie mehr!
Vanja Kaludjercic: Diese Reihe zu bestücken ist immer besonders reizvoll. Ein Name, der die Runde macht, ist natürlich Cate Blanchett. Sie hat unlängst bei „Rumours“ mit Guy Maddin gearbeitet, der sehr eng mit dem IFFR verbunden ist. Cate Blanchett ist eine echte Verfechterin und Unterstützerin des unabhängigen Kinos – aber auch der Menschenrechte. Ihre Arbeit für die UN ist wirklich beachtlich. Sie spricht nicht nur über ihre Zusammenarbeit mit Guy Maddin, sondern auch über ihre Arbeit an dem Kurzfilm „Bozo over Roses“ von Matthew Sidle, in dem sie die einzige Rolle spielt und der bei uns im Kurzfilmprogramm läuft. Man muss sagen, dass das IFFR eines der wenigen großen Festivals ist, das dem Kurzfilm eine so große Bühne bietet! Im Talks-Line-up freue ich mich zudem auf Albertina Carri, Cheryl Duny und Alex Ross Perry. Und natürlich unseren diesjährigen Robby Müller Award-Rezipienten, Lol Crawley. Auch Takashi Miike, ein alter Freund des Festivals, wird unser Gast sein, das haben wir noch gar nicht angekündigt. Er bringt auch seinen neuen Film mit, „Blue Fight“, der am 31. Januar in den japanischen Kinos startet.
Sie sind als Festivalleiterin bekannt für Ihren abenteuerlichen Filmgeschmack. Mich würde abschließend interessieren, welcher Studio-Mainstream-Film Ihnen zuletzt gefallen hat.
Vanja Kaludjercic: Ich war positiv überrascht von „Wicked“. Mit dem Musical hatte ich nie was am Hut. Ich gestehe, dass meine Ignoranz sehr groß war, weil ich nicht mal wusste, dass es in der Welt von „Der Zauberer von Oz“ spielt. Und ich bin wirklich Riesenfan von „Der Graf von Monte Christo“! Der ist einfach exzellent!
Das Gespräch führte Barbara Schuster