Mit seinem Filmdebüt „Spiders – Ihr Biss ist der Tod“ landete der junge französische Filmemacher Sébastien Vanicek den größten Kinoerfolg eines heimischen Horrorfilms seit mehr als 20 Jahren. Zum bevorstehenden Kinostart in Deutschland im Verleih von Plaion Pictures sprachen wir mit ihm, wie sich aus einem Schocker für Netflix ein César-nominiertes Phänomen entwickelt hat.
Sie haben einen tollen Horrorfilm gemacht, der in der Tradition eines George Romero aber auch noch mehr zu bieten hat. Finden Sie denn, dass es auch ein politischer Film ist?
Sébastien Vanicek: Natürlich, ganz unbedingt! Es gibt sehr viele Filme in Frankreich, die sich mit den Vorstädten befassen, in denen es um die Banlieues geht. Ich habe aber selten den Eindruck, in diesen Filmen die Menschen zu sehen, die ich aus den Banlieues kenne. Sie zeigen nicht die Welt, wie ich sie erlebt habe beim Großwerden. Immer geht es um Probleme, Krisenherde und Kleinkriminalität. Ich wollte etwas Anderes zeigen, wollte die Menschen abbilden, wie ich sie in meinem Viertel erlebe. Es gibt Probleme. Aber diese Probleme kommen von außen. Ich wollte zeigen, wie die Jugendlichen in den Banlieues behandelt und abgestempelt werden.
Mit den Spinnen als Sinnbild.
Sébastien Vanicek: Ganz genau. Es fällt nicht schwer, die Parallelen zu sehen zwischen den Spinnen und den Figuren in meinem Film. Auch das ist ein politisches Statement: Solidarität in lebensbedrohlichen Umständen ebenso wie die Angst vor dem Fremden und Unbekannten. Es ist aber auch ziemlich effektiv in einem Horrorfilm. Ich wollte keine Lehrstunde inszenieren, sondern einen Film machen, der unterhaltsam ist und im Idealfall genau die Menschen anspricht, die ich in ihm zeige.
Was kam zuerst: das Bedürfnis, einen Horrorfilm zu machen, oder das Bedürfnis, einen Film zu machen, der das Leben abbildet, wie Sie es kennen?
Sébastien Vanicek: Zunächst einmal war mir klar, dass mir als Regiedebütant kein hohes Budget zur Verfügung stehen würde. Also musste ich einen Stoff finden, der sich mit überschaubaren Mitteln effektiv umsetzen lassen sollte. Er sollte unterhaltsam sein, und er sollte etwas aussagen. Das war meine Maßgabe. Wir hatten einen guten Pitch. Und konnten dann genau den Film machen, den wir uns vorgestellt hatten, wie man ihn aus Frankreich wahrscheinlich nicht so oft sieht – ein Creature-Feature mit Spinnen! Uns war es wichtig, die Menschen neugierig zu machen. Sie sollten Lust haben, sich den Film anzusehen. Und sie sollten nicht enttäuscht werden, sie sollten eine gute Zeit im Kino haben. Das Publikum ist mir heilig. Wenn man das Kino verlässt, sollte man etwas haben, worüber man reden will.
War es einfach, den Film auf die Beine zu stellen.
Sébastien Vanicek: Erstlingsregisseure haben es nicht einfach in Frankreich, es ist ein langer, dorniger Weg, bis man am Ziel ist. Man muss kämpfen und darf nicht so schnell aufgeben. Die Reise von „Spiders“ war interessant, weil wir das Glück hatten, dass sich die Dinge sehr schnell entwickelten, nachdem wir einen Produzenten gefunden hatten. Wir sind sofort zu Netflix gegangen, weil wir uns nicht vorstellen konnten, dass jemand anderes den Film, wie er uns vorschwebte, würde produzieren wollen. Netflix erschien uns der richtige Weg. Als man dort aber die aktuelle Fassung des Drehbuchs gelesen hatte, sagte man uns, wir sollten den Weg übers Kino gehen. Erst 16 Monate später würde er dann auf der Plattform landen. Das war eine große Überraschung, die Erfüllung meiner Träume. Das hieß, ich konnte so an dem Film arbeiten, an den Bildern und am Ton, dass er maximale Wirkung auf der Leinwand entfaltet. Anfang 2022 erhielten wir das grüne Licht von Netflix, Anfang 2023 begannen wir den Dreh. Premiere feierte „Spiders“ dann im September in Venedig. Sehr schnell alles, aber absolut die Ausnahme von der Regel in Frankreich.
„Erstlingsregisseure haben es nicht einfach in Frankreich, es ist ein langer, dorniger Weg, bis man am Ziel ist. Man muss kämpfen und darf nicht so schnell aufgeben.“
Und dann avancierte Ihr Film zum erfolgreichsten Horrorfilm an den französischen Kinokassen in mehr als 20 Jahren.
Sébastien Vanicek: Wir wurden für den besten Erstlingsfilm bei den Césars nominiert! Das sagt sehr viel darüber aus, wie sehr unser Film vom Publikum gemocht wurde, denke ich.
Es hat gewiss auch damit zu tun, dass Ihr Film nie wie ein Erstling aussieht. Wie Sie die Kamera bewegen, wie Sie Szenen etablieren, das ist schon sehr beeindruckend – großes Kino!
Sébastien Vanicek: Ich habe ein Gespür für Raum und Bewegung entwickelt, weil ich immer schon gezeichnet habe. Kompositionen und Farben haben mich schon interessiert, als ich gerade in die Schule kam. Das hat sich dann ganz natürlich entwickelt. Ich habe viel über Bewegung nachgedacht und war technisch bald schon so versiert, dass ich mich mehr und mehr damit befassen konnte, wie man Szenen etabliert oder Spannung aufbaut. Mir ist immer wichtig: Wie erreiche ich ein Publikum, wie bewege oder involviere ich den Zuschauer, wie löse ich Emotionen aus? Ich habe eine feste Clique von Mitstreitern, und wir haben alles Erdenkliche immer und immer wieder ausprobiert, um bereit zu sein, wenn wir endlich die Chance erhalten würden, einen Film zu machen.
Man braucht nicht viel Geld, um einen Film effektiv zu erzählen.
Sébastien Vanicek: Als wir „Spiders“ entwickelt haben, war uns bewusst, dass wir, wenn der Film schließlich ins Kino kommen würde, gegen den nächsten großen Hollywoodblockbuster würden konkurrieren müssen, dem nächsten „Star Wars“ oder Marvel-Film, irgendetwas in dieser Größenordnung. Wie kommt man dagegen an? Wie fällt man dennoch auf? Indem man ein Maximum aus jeder Szene herausholt! Man durfte nicht sehen, dass wir kein Geld hatten. Da muss man erfindungsreich sein, Ideen haben und gleichzeitig ökonomisch arbeiten, gut vorbereitet sein, genau wissen, was man mit der jeweiligen Szene ausdrücken will. Das geht, wenn man von Leuten umgeben ist, die man gut kennt und die dieselbe Sprache sprechen.
Sind die Regisseure der Welle harter französischer Horrorfilme vor 20 Jahren Vorbilder für Sie?
Sébastien Vanicek: Sie werden lachen. Ich bin kein Hardcore-Horrorfan. Sicher, ich mag die Filme, die Sie ansprechen… Ich habe sie als Jugendlicher gesehen, „Haute Tension“, „Martyrs“, und kann mich erinnern, was sie in mir ausgelöst haben. Das fand ich interessant, das habe ich mir gemerkt. Ich habe aber weniger diese Filme studiert als vielmehr, was sie in mir ausgelöst haben und wie es ihnen gelungen ist. Das ist es, was mich beschäftigt: Wie löse ich eine Emotion aus, wie kontrolliere ich, was der Zuschauer fühlt? „Spiders“ habe ich nicht gemacht, um mich vor dem Horrorfilm zu verbeugen, sondern weil ich das Publikum emotional erreichen wollte, so intensiv, wie nur möglich.
Und doch bleiben Sie für Ihre nächste Arbeit dem Genre treu: Sam Raimi persönlich hat Sie ausgewählt, den nächsten „Evil Dead“-Film zu drehen…
Sébastien Vanicek: Eigentlich wollte ich nach „Spiders“ nicht noch einen Horrorfilm machen. Wie gesagt, es ist nicht mein präferiertes Genre. Als Filmemacher will ich alle möglichen Genres ausprobieren, ich will mich nicht festlegen. Wenn man einen interessanten Film gemacht hat und man in Amerika aufgefallen ist, bekommt man lauter Drehbücher geschickt, die so sind, wie der Film, den man gemacht hat. Deshalb wollte ich eigentlich in Frankreich bleiben und meinen Weg gehen. Die amerikanischen Projekte habe ich alle abgelehnt. Raimis Team nahm Kontakt auf und stelle mir nur eine Frage: Wenn Du einen „Evil Dead“-Film machen könntest und völlig freie Hand hättest, wie würde er aussehen?
Das weckte Ihr Interesse?
Sébastien Vanicek: Ich mochte, dass mir nicht einfach etwas vorgelegt, sondern die Frage gestellt wurde, wie ich mir etwas vorstellen würde. Ich konnte mir meine eigenen Gedanken zu einem berühmten Franchise machen, etwas schreiben. Ich dachte mir: Okay, das mache ich. Wenn es ihnen nicht gefällt, dann mache ich es halt nicht. Kein Problem. Wenn es ihnen gefällt, dann machen wir es so, wie ich es mir ausgedacht habe. Mit meinem Mitautor Florent Bernard dachte ich mir einen Bluff aus. Wir haben 15 Seiten geschrieben und die verrücktesten Sachen untergebracht, die uns einfielen. Richtig abgefahrenes Zeug, wie man es noch nie gemacht hat bei „The Evil Dead“. Wir wollten testen, ob sie es wirklich ernst meinten, dass sie die Marke in eine andere Richtung entwickeln wollen. Wir haben auch klar formuliert, wie wir uns die Darstellung von Gewalt vorstellten. Gewalt um der Gewalt willen interessiert mich nicht. Gore und Splatter sind mir nicht wichtig. Wir dachten, dass wir eine Absage erhalten würden. Aber sie haben Ja gesagt. Diesen Film bereiten wir jetzt vor, einen „Evil Dead“-Film, wie man ihn noch nie gesehen hat.
Das Gespräch führte Thomas Schultze.